Dienlicher Stadtbaustein mit Wow-Faktor

Ein Artikel von Birgit Gruber | 08.02.2021 - 10:49
Bergamo_01.jpg

© Brigida Gonzalez

Das Stuttgarter Architekturbüro VON M wurde 2004 gegründet und besteht heute aus drei Partnern und 20 Mitarbeitern. Seit der Gründung verfolgen die Planer den Ansatz einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Architekten, Innenarchitekten und Kommunikationsgestaltern. So können Projekte ganzheitlich über die unterschiedlichsten Maßstäbe hinweg bearbeitet werden – von der Ausstellungsgestaltung über Messestände bis hin zu ganzen Wohnquartieren oder öffentlichen Bauten wie Schulen und Museen. Bisher sind sie vor allem als Meister der leisen Töne aufgefallen. Dafür steht auch der Name. „Es ist die Abkürzung für Visual Orchestra Noble Minded. Wir sehen uns als visuelles Orchester, das verschiedene Mitspieler hat. Gemeinsam erzeugen wir einen großartigen Klang, also ein tolles Projekt“, erklärt Architekt Daniel Seiberts. Die Bauten des Büros sind geprägt von einer funktionalen Organisation und ihrem, dem jeweiligen Kontext angemessenen Auftritt. Der Baustoff Holz ist ihnen dabei keine Unbekannte: „Wir bauen sehr viel mit Holz, da die Vorteile einfach auf der Hand liegen. Abgesehen von den Nachhaltigkeitsaspekten finden wir, dass es ein atmosphärisch tolles, lebendiges Material ist und eine Vielzahl interessanter bautechnischer Möglichkeiten bietet. Insbesondere durch die technischen Entwicklungen der letzten Jahre“, weiß Seiberts. Neuland betrat man 2014 allerdings mit dem Bau eines Hotelkomplexes in Ludwigsburg.

Bergamo_02.jpg

Damit sich das Hotel von seiner heterogenen Umgebung abhebt, wurde die Fassade des Holzbaus mit weißen Faserzementplatten verkleidet. © Brigida Gonzalez

Stadt bestand auf Holzbau

Bergamo_03.jpg

Die Architekten haben sowohl Bar und Empfangstresen als auch die Tische selbst entworfen und von Handwerkern vor Ort aus massivem Eschenholz ausführen lassen. © Brigida Gonzalez

Initiiert wurde das Projekt von Harald Kilgus, der in Ludwigsburg bereits ein Hotel betreibt und Bedarf für eine weitere Unterkunft sah. Im Rahmen einer städtebaulichen Maßnahme wurde gleichzeitig ein neues Grundstück in Sichtnähe des Ludwigsburger Residenzschlosses generiert. „Ein perfekter Zufall“, sagt Seiberts. Denn freie Flächen inmitten des Stadtgefüges seien heutzutage nicht mehr zu finden. Bis 2014 befand sich dort die Tiefgaragenabfahrt des Marstall Centers – eines Einkaufszentrums, das in den 1970er-Jahren anstelle der Schlossstallungen errichtet wurde. Für einen Neubau gab die Stadt grünes Licht, allerdings unter zwei Voraussetzungen. „Es musste ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben und das Hotel in Holzbauweise errichtet werden“, erzählt der Architekt. Da Ludwigsburg im Jahr 2014 als nachhaltigste Stadt Europas ausgezeichnet wurde, sollte der Bau „als erstes CO2-neutrales Gebäude der Stadt“ ein Vorzeigeprojekt sein. Den Wettbewerb unter fünf Mitstreitern konnten VON M 2015 für sich entscheiden.

Investorensuche: Bitte warten!

Bergamo_05.jpg

Die schlichte, weitgehend symmetrische Kubatur des Neubaus kaschiert die schwierige Topografie des Bauplatzes: Nach Osten fällt das Terrain leicht und nach Norden stark ab. © Brigida Gonzalez

Im selben Jahr ging Kilgus auf Investorensuche. Es sollte allerdings fast zwei Jahre dauern, bis ein Geldgeber für das Holzhotelprojekt gefunden wurde. „Schlussendlich war es der lokale Immobilienbetreiber Fedor Schoen, der das Projekt interessant fand und – anders als viele andere Investoren – einer Holzkonstruktion gegenüber sehr aufgeschlossen war“, so Seiberts, der hier massiven Aufklärungsbedarf bezüglich Dauerhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit sieht. „Der Investor war von der Modulbauweise begeistert, mit deren Planung wir Anfang 2017 so richtig starten konnten“, freut sich Seiberts. Die Herausforderung dabei: Das neue Hotelgebäude sollte sich nicht nur gegen den klotzartigen Waschbetonplattenbau des Marstall Centers direkt gegenüber behaupten, sondern auch ins Bild der schwäbischen Barockstadt mit seinem Residenzschloss und den Gründerzeithäusern passen. „Uns war klar, dass sich das Hotel aus dieser heterogenen Architekturlandschaft hervorheben muss. Nur, woran sollten wir uns orientieren? Wir hatten die Vision eines starken und stabilen Stadtbausteins, der diese Heterogenität ein wenig überstrahlt. Er sollte die Umgebung zusammenhalten und gleichzeitig stark prägend am Platz stehen. Das Mansardendach nimmt Bezug zur Barockbebauung der Stadt, die Fenster öffnen sich nach außen wie die Klappläden eines Gründerzeithauses und sind bündig in die Fassade aus weißen Faserzementplatten eingelassen“, weiß der Projektleiter. Strahlend weiß wie eine Braut an ihrem schönsten Tag steht es also da, das Hotel Bergamo, wie es seit seiner Eröffnung im September 2019 heißt. Und den Blick von ihm kann man in dieser Umgebung nur schwer lassen.

Homogener Holzmodulbau

Bergamo_06.jpg

Ein Zimmer, ein Modul: Die einzelnen Holzkisten wurden im steirischen Kaufmann-Werk inklusive Sanitäreinrichtungen vorgefertigt. © Brigida Gonzalez

So heterogen die Landschaft außen, so homogen ist das Hotel innen. „Die Modulbauweise bietet sich immer dann an, wenn ein Gebäude einen hohen Wiederholungsfaktor hat”, so Seiberts. Das Unter- und das Erdgeschoss des Hotels sollten in konventioneller Stahlbetonbauweise errichtet und die Hotelzimmer in den oberen Stockwerken wie in einem Baukastensystem als einzelne Holzmodule rund um den Treppenkern aus Beton aufeinandergestapelt werden. Als Partner für die Ausführung holten sich VON M Kaufmann Bausysteme mit ins Boot, die die Zimmermodule in ihrem Werk in der Steiermark produzierten. „Diese Art des Bauens war auch aufgrund der Enge des Bauplatzes von Vorteil. Eine übliche Baustelleneinrichtung wäre hier nicht möglich gewesen“, weiß Seiberts, der weiter anführt: „Kaufmann Bausysteme setzen in diesem Bereich die Benchmark.“ In nur einer Woche wurden die vier Stockwerke mit den Zimmermodulen auf dem Erdgeschoss verbaut. Pro Tag ein Geschoss, das insgesamt elf Module beinhaltet. Ein weiterer Tag war für die Übergänge, Anschlüsse und das Abdichten nötig. „Montagfrüh wurde mit der Montage begonnen und Freitagmittag hatten wir ein regensicheres Haus“, ist Seiberts noch jetzt begeistert. Um den Verkehr in Ludwigsburg während dieser Zeit nicht zum Erliegen zu bringen, parkten die beladenen Lkw, die im Konvoi nachts aus der Steiermark anfuhren, außerhalb der Stadt auf Autobahnraststätten. Immer wenn ein Zimmermodul verbaut wurde, wurde on demand das nächste Element auf die Baustelle gefahren.

Das Problem mit dem Knick

„Das Dachgeschoss setzt sich aus fünf Modulen zusammen – einem mittleren Modul (Breite: 4,4 m, Länge: 5,7 m und Höhe: 2,9 m) und vier Randmodulen mit den Maßen 4,6 x 10,8 x 2,9 m. Die Module vom ersten bis zum dritten Obergeschoss wurden zu je zwei Stück pro Lkw transportiert. Die vier großen Einheiten des Dachgeschosses zu je einem Modul pro Lkw. Insgesamt wurden also 24 Ladungen nach Ludwigsburg gebracht“, erklärt Hendrik Reichelt, Bereich Forschung und Entwicklung bei Kaufmann aus Reuthe. Das Dachgeschoss des vierstöckigen Hotelneubaus war aufgrund seines Knicks im Mansardendach nicht nur statisch eine Herausforderung, sondern erzeugte auch bei der Montage einen Herzschlagmoment beim leitenden Architekten. „Durch den Knick im Mansardendach verkleinert sich das oberste Geschoss erheblich, sodass die Hotelzimmer anders organisiert und um 90 Grad gedreht werden mussten. Ganz oben sind deshalb nur fünf der insgesamt 55 Gästezimmer untergebracht. Hier wurden zwei Zimmer zu jeweils einem Modul zusammengefasst.“ Dafür musste ein 300 t Kran angeschafft werden, der – an der Stirnseite des Hauses platziert – das riesige Modul über das gesamte Hotel hinweghob. „Das war eine äußerst spektakuläre Aktion, als die 20 t schwere Holzkiste über der Baustelle schwebte“, so Seiberts. Tragwerksplaner Martin Vogelmann von Merz Kley Partner erklärt das Problem mit dem Knick aus statischer Sicht: „Im dritten Obergeschoss musste eine zusätzliche Stahlstütze in die Dämmung der Module integriert werden, die die Last des obersten Stockwerkes abträgt. Sie war Teil des Mansardenmoduls und stellte deshalb auch keine weitere Behinderung des Arbeitsablaufes dar. Die Stahlstütze sorgt an der geknickten Stelle, wo zwei Massivholzplatten aufeinandertreffen, für eine biegesteife, verschweißte Ecke.“

Kommunikation im Vorfeld entscheidend

Nachdem die Aufbaukolonne des Holzbauers die einzelnen Module statisch verbunden hatte, mussten lokale Handwerker schließlich die Haustechnik von außen vertikal miteinander verbinden. Laut dem Architekten herrschte im Vorfeld aber zu großer Optimismus, was das „einfache Anschließen“ der Module betraf: „Die meisten Unternehmen mussten sich erst mit der Holzbauweise vertraut machen und lernen, dass man einen Fehler nicht so einfach korrigieren kann. Die hohe Präzision des Holzbaus erlaubt keine Fehler. Die Haustechniker selbst waren es aber nicht gewohnt, mit einer derartigen Präzision zu arbeiten.“ Seiberts‘ Fazit: „Eine ausführliche Planung bis ins letzte Detail sowie eine frühzeitige Kommunikation unter allen Beteiligten sind beim Holzmodulbau noch wichtiger als bei konventionellen Gebäuden.“

Mock-up-Hotelzimmer für Planer

Bergamo_04.jpg

Die Fenster sind auf Sitzhöhe herabgezogen, sodass die Fensterbänke als Sitznischen und Kofferablagen dienen. © Brigida Gonzalez

Da das Grundstück mit knapp 400 m2 für das Hotel Bergamo verhältnismäßig klein ist und aus wirtschaftlichen Gründen eine bestimmte Anzahl von Zimmern realisiert werden musste, fielen die Zimmergrundrisse mit durchschnittlich 14 m2 relativ übersichtlich aus. Dennoch wirken sie nicht eng, sondern großzügig und luftig. Zu verdanken ist dies einer intelligenten Innenraumgestaltung. Ein zweistufiges Verfahren half den Planern dabei, die Übersicht zu behalten. Zunächst wurde in der Werkstatt des Stuttgarter Büros ein Hotelzimmer simuliert. So konnte der spezifische Grundriss besser erarbeitet werden. „Die Fenster sind auf Sitzhöhe herabgezogen, sodass die Fensterbänke als Sitznischen und Kofferablagen dienen. Das Bett ist 1,60 m breit und so platziert, dass der Abstand vom Fußende zur Wand größer ist als zur jeweiligen Bettseite“, verrät Seiberts zwei Besonderheiten. In einem zweiten Schritt und nach Beauftragung der Firma Kaufmann haben die Architekten ein Mock-up-Modul fertigen lassen, um dem Bauherrn eine genaue Vorstellung von der Raumwirkung und den Oberflächen zu vermitteln und letzte Details abzustimmen. Dieses war bereits vollständig ausgestattet und angeschlossen und wurde später auch als ein Hotelzimmer im Bergamo verbaut. „Die Serienfertigung im steirischen Kaufmann-Werk war sehr beeindruckend. Die Brettsperrholzelemente laufen am Fließband von Station zu Station und die Handwerker können in einer beheizten und witterungsgeschützten Halle ihre Arbeit machen. Dabei herrscht eine ganz andere Stimmung als auf einer herkömmlichen Baustelle, wo der Tonfall aufgrund von Kälte und Nässe auch schon mal rauer wird. Das positive Arbeitsumfeld wirkt sich dann natürlich auch auf die Qualität des Endergebnisses aus“, ist Seiberts begeistert.

Raumqualität für Gäste spürbar

Von der Begeisterung der bisherigen Besucher zeugen zahlreiche Kommentare auf den einschlägigen Hotelbewertungsportalen. Ein Regelbetrieb ist derzeit nicht möglich. Auf der Hotelhomepage liest man zwar: „Wir haben geöffnet“, jedoch darf man aufgrund der weltweiten Pandemie auch in deutschen Unterkünften nur Business-Gäste empfangen. Im Erdgeschoss liegen Bistro- und Barbereich, gefolgt von der Rezeption und den Räumen für Büro, Verwaltung und das Gepäcklager. Die Architekten haben hier sowohl Bar und Empfangstresen als auch die Tische selbst entworfen und von Handwerkern vor Ort aus massivem Eschenholz ausführen lassen. Die handwerkliche Qualität wirkt sich unmittelbar positiv auf die Atmosphäre des Raums aus. Die Oberflächen in den Zimmern und den öffentlichen Bereichen wurden in ihren ursprünglichen Materialien belassen. „Für uns war klar, dass wir die Materialien, aus dem das Haus gebaut wurde, auch zeigen wollen“, so Seiberts. „Das betrifft neben den Holzoberflächen der Zimmermodule auch den Sichtbeton, der dank seiner Struktur genauso lebendig wirkt wie Holz – das passt gut zueinander.“ Im Untergeschoss sind neben drei nach Norden, den Hang hinab ausgerichteten Zimmern die für den Hotelbetrieb notwendigen Räume für Müllentsorgung, Fahrradverleih, Personaleingang und Wäschelieferungen angesiedelt und über eine Rampe zugänglich.

„Und so überzeugt das Innere dieses Hotels durch atmosphärische Wärme ebenso wie der Baukörper als Stadtbaustein funktioniert, da er sich trotz seiner vermeintlichen Kühle doch ganz in den Dienst der Stadt stellt“, schreibt David Kasparek, Chef vom Dienst bei der architekt, Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten. Einen besseren Abschluss hätten wir auch nicht finden können.

Projektdaten

Standort: Ludwigsburg
Bauherrschaft: Fedor Schoen GmbH
Fertigstellung: September 2019
Bauzeit: März 2018 bis August 2019
Architektur: VON M Architektur
Tragwerksplanung: Merz Kley Partner
Holzmodulbau: Kaufmann Bausysteme
Systemlieferanten: Mayr-Melnhof
Holzmenge: 450 m³
Grundstücksfläche: 400 m²