Von der Teilchenphysik zum Schilfdecken

Ein Artikel von Birgit Gruber | 26.05.2025 - 09:49
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Durch die Verwendung von Naturmaterialien wie Holz und Schilf fügt sich der biophile Baukörper harmonisch in die ockerfarbene Landschaft des Seewinkels ein und hebt sich zugleich bewusst von der heterogenen weißen Fassadensprache der umliegenden Siedlungsstruktur ab. © Gilbert Berthold

Warum sollte gerade ein Einfamilienhaus den renommierten Bauherrenpreis gewinnen, nur weil es ein Schilfdach hat? Diese Frage stellte sich die Jury, als sie zum Lokalaugenschein nach Weiden am See kam. Die Anerkennung würdigt realisierte Projekte, die sich durch herausragende architektonische Qualität, eine konsequente Umsetzung der Bauaufgabe, hohe Ausführungsstandards sowie durch gesellschaftliche Relevanz und innovative Ansätze als beispielgebend erweisen. „Anfängliche Bedenken zerstreuten sich aber im langen Gespräch der Jury mit Jacobus, der selbst in zweiter Generation passionierter Schilfschneider und Schilfdachdecker ist. Durch seinen Versuchs- und Demonstrationsbau will er einem regional tief verwurzelten Handwerk zu mehr Ansehen verhelfen“, erzählt Architekt Gilbert Berthold.

Mit diesem Einfamilienhaus haben Bauherr und Architekt einen bedeutenden Beitrag für das Material Schilf im zeitgenössischen Architekturkontext geleistet. Aufgrund strenger brandschutztechnischer Restriktionen galt die Realisierung von Schilfdächern im Neubau nämlich als nahezu ausgeschlossen. „Durch seine Vision und eine fundierte wissenschaftliche Begleitung konnte Jacobus nicht nur die technische Machbarkeit unter heutigen baurechtlichen Rahmenbedingungen nachweisen, sondern auch einen wichtigen Impuls für die bauordnungsrechtliche Anerkennung des Materials im modernen Wohnbau setzen. Wir müssen weiter Vorurteile abbauen, damit das Handwerk ordentlich wiederbelebt wird“, ist sich Berthold sicher. 

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Ein Blickfang ist das Einfamilienhaus von Marina Rosa und Jacobus van Hoorne in Weiden am See allemal. Das Dach aus Schilf wurde vom Hausherr selbst gedeckt. © Gilbert Berthold

Ungenutztes Potenzial trotz lokaler Verfügbarkeit

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© Arnaud Bostelmann

Schilf stellt im Burgenland einen regional verfügbaren, schnell nachwachsenden Rohstoff dar, der durch seine positiven bauphysikalischen Eigenschaften überzeugt: Es bindet während des Wachstums CO2, bietet exzellente Dämmwerte und weist bei fachgerechter Verarbeitung eine Lebensdauer von bis zu 50 Jahren im Dachbereich auf. Allein in der Region Neusiedler See wird jährlich ausreichend Schilf geerntet, um mehr als 500 Einfamilienhaus-Dächer zu decken. Dennoch bleibt die Nutzung dieses ökologisch wie ökonomisch attraktiven Materials im Inland marginal. Der Großteil der Ernte wird bislang nach Nordeuropa (Niederlande, England, Norddeutschland, Dänemark) exportiert. „Absurderweise verarbeiten wir derzeit nur ein Prozent der Ernte in Österreich, obwohl Schilfdächer früher eine sehr große Tradition hatten und über Jahrhunderte die prägende Dachdeckung in den Dörfern rund um den Neusiedler See waren. Leider sind sie dann ab den 1950er-Jahren nach und nach verschwunden. Heute sieht man ein Schilfdach nur noch vereinzelt auf touristischen Bauten“, weiß van Hoorne. Man könne sogar fünfmal so viel Schilf schneiden, ohne dass es die Natur wesentlich beeinflussen würde: „Es hat sich in den letzten Jahren ohnehin gezeigt, dass der Schilfschnitt positiven Einfluss auf den Erhalt des Ökosystems des Sees hat. Einschränkungen gibt es flächenmäßig im Bereich des Nationalparks und generell zeitlich: Der Schilfschnitt ist nur im Winter von Mitte November bis Mitte März erlaubt, um die Brutzeit der Vögel nicht zu stören.“

Zwei Freunde mit ganz viel Passion

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Zwei Freunde im Schilfgürtel des Neusiedler Sees: Jacobus van Hoorne (li.) und Architekt Gilbert Berthold © privat

Der heute 39-jährige Bauherr und Vater von drei Kindern wurde in Holland geboren und kam mit fünf Jahren ins Burgenland. Sein Vater, der dort selbst jahrzehntelang als Schilfdachdecker tätig war, hatte die Region in den 1980er-Jahren kennen und lieben gelernt. Nach dem Gymnasium in Neusiedl am See und der HTL in Mödling studierte van Hoorne ein Jahr an der Akademie der bildenden Künste in Wien Architektur. Dort lernte er Berthold kennen und eine gute und lange Freundschaft entstand, die auch Bertholds Karriereschritte im Ausland überlebte. Der Architekt arbeitet heute von Zürich aus. „Ich bin vor zehn Jahren in die Schweiz gezogen und habe über acht Jahre als Projektleiter und Associate für das Zürcher Architekturbüro Karamuk Kuo gearbeitet. Nach meiner letzten Projektleitung am archäologischen Sammlungszentrum Augusta Raurica habe ich mich selbstständig gemacht, denn es war schon immer mein Herzbluttraum, ein eigenes Büro zu starten, schildert Berthold. Die Planung des Einfamilienhauses in Weiden am See begann bereits während dieser Phase – als gemeinsames Projekt mit van Hoorne. „Es markierte meinen Einstieg in die Selbstständigkeit“, ergänzt Berthold. Was Bauherr und Architekt neben der Freundschaft verbindet? Beide brennen für das, was sie tun, und üben mit großer Leidenschaft ihren Beruf aus. 

Von der Teilchenphysik zum Schilfschneiden

„Gilbert hat sein Architekturstudium abgeschlossen, aber für mich war das nichts. Deshalb habe ich lieber Physik studiert und anschließend sieben Jahre lang am CERN gearbeitet”, so van Hoorne bescheiden. Am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in der Nähe von Genf, arbeiten nur die hellsten Köpfe. Trotz Top-Job und Anerkennung entschied sich van Hoorne, 2018 ins Burgenland zurückzukehren, um den Betrieb seines Vaters zu übernehmen. „So schön es am CERN und in der Forschung auch war, mir hat das Arbeiten draußen in der Natur, mit den Händen, zu viel gefehlt. Auch die Freiheit der Selbständigkeit ging mir ab. Und dann hat mich die Herausforderung gereizt, dem Schilfdach in Österreich wieder zu einer größeren Wertschätzung und Verbreitung zu verhelfen. Dem nähern wir uns nun langsam, aber stetig“, ist sich van Hoorne sicher. So sieht man ihn jetzt mit zu Erntemaschinen umgebauten Pistenraupen zu Jahresbeginn durch den Schilfgürtel fahren. Ihr Kettenlaufwerk eignet sich besonders gut, um sich im sumpfigen Gelände des Schilfgürtels fortbewegen zu können. Sein eigenes Wohnhaus hat er zu Demonstrationszwecken gebaut. „Ich will unbedingt zeigen, dass Schilf großes Zukunftspotenzial hat. Das Schilf ist unbehandelt und kann nach der Lebensdauer quasi am Kompost entsorgt werden. Außerdem dämmt es mit 30 cm Stärke so gut wie etwa 20 cm Styropor“, weiß der Bauherr. Dafür hat er gekämpft.

Realbrandversuch und s-Form

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Das Dach des Hauses bildet eine s-Form. © Arnaud Bostelmann

Die Ausgangslage Schilfdach versus Brandschutzregeln war schwierig. Schilfdächer bestehen nämlich die entsprechende Brandprüfung nicht, dennoch erlaubt die OIB-Richtlinie es, die Schutzziele auf alternativem Weg zu erreichen. Zwei Jahre lang hat van Hoorne an Alternativen gearbeitet und in Realbrandversuchen bewiesen, dass es im verbauten Gebiet zu keinem Brandüberschlag kommt: „Die OIB-2 Richtlinie, aus welcher die Brandschutzvorschriften hervorgehen, gibt für Dachbedeckungen generell als Anforderung an das Brandverhalten vor, dass das sogenannte B_roof(t1) erfüllt sein muss. Dabei wird bei einer Normprüfung auf der Dachfläche ein Korb mit Holzwolle angezündet und geschaut, wie schnell und weit sich das Feuer ausbreitet, und wie tief es in das Dach einbrennt. Genau diese Prüfung haben wir bei der MA39 in Wien auch bei unserem angepassten Schilfdachaufbau durchgeführt. Dabei haben wir streng genommen die Anforderungen für B_roof(t1) nicht erfüllt. Wir konnten aber trotzdem nachweisen, dass ein Schilfdach dieser Art nur in sehr beschränktem Maße brennt und somit keine Gefahr für angrenzende Wohnhäuser besteht“, beschreibt van Hoorne den Prozess. Die Dachkonstruktion selbst ist dagegen verblüffend einfach: Die parallel angeordneten Sparren verlaufen linear von der zentralen Firstachse zu den beiden s-förmigen Trauflinien. Die einfach gekrümmten Dachflächen eignen sich ideal für ein Schilfdach, dessen Langlebigkeit mit dem Neigungswinkel (mindestens 40 Grad) zunimmt. „Das Schilf wird dabei jeweils mit Draht an die Unterkonstruktion gebunden. Durch Stoßen mit einem Stoßbrett verschiebt man die Schilfhalmenden so gegeneinander, dass eine schräge, einheitliche, durchgehende Fläche entsteht. Die widerstandsfähigen Wurzelenden zeigen dabei nach außen. In unserem Fall ist das Dach nicht hinterlüftet“, erklärt der Profi.

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Die große Glasschiebetür einzubauen, war laut Architekt dank der Präzision eines Holzbaus kein Problem. © Arnaud Bostelmann

Der Rest des Hauses wurde ebenfalls konsequent ökologisch als vorgefertigter Holzelementbau konzipiert. Dabei stand dem Planerteam das Holzbauunternehmen Kast aus Gols zur Seite. Die Tramlage und Sparren sind in BSH ausgeführt, die Eichenholzfassade wurde vom Bauherrn selbst aufgezogen. Das zweistöckige Holzhaus hat einen eigenwilligen Grundriss, der seiner Positionierung am Grundstück zu schulden ist. Das S-förmige Gebäude mit zentralem Wohnraum als Atrium verfügt über großzügige Glasflächen, doch durch seine geschickt gewählte Ausrichtung in Bezug auf die Himmelsrichtungen und Grundstücksgrenzen erhält man stets die passende Menge an direktem Sonnenlicht für jede Jahreszeit. „Die Herausforderungen am Holzbau waren neben der eigenwilligen Grundrissform eine gerade Firstkante zu erreichen, trotz der sich ändernden Dachneigungen (45 bis 90 Grad) und der Dicke des Dachdeckungsmaterials. Zusätzlich mussten wir die Zugspannungen über dem Atrium lösen“, berichtet Holzbau-Meister Gerhard Kast. 

Pingpong mit 3D-Modell

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Das S-förmige Gebäude mit zentralem Wohnraum als Atrium verfügt über großzügige Glasflächen, doch durch seine geschickt gewählte Ausrichtung in Bezug auf die Himmelsrichtungen und Grundstücksgrenzen erhält man stets die passende Menge an direktem Sonnenlicht für jede Jahreszeit. © Arnaud Bostelmann

Der hohe Grad an Vorfertigung beim Holzelementbau kam dem Architekten mit Büro in Zürich sehr gelegen. Über 3D-Modelle konnte er über die Entfernung viel Einfluss auf den Planungs- und Ausführungsprozess nehmen. „Ich begleite meine Projekte gerne eng und übernehme Verantwortung für deren Umsetzung“, sagt Berthold. So hat der Planer ein 3D-Modell erstellt, das dann vom Holzbauunternehmen eingelesen, adaptiert und umgesetzt wurde. „Das ging schon ein paar Mal so hin und her wie beim Pingpong und funktioniert natürlich nur, wenn das Holzbauunternehmen eine entsprechende Größe und Qualität hat. Holzbau Kast eilt sein guter Ruf voraus, das merkt man in der professionellen Zusammenarbeit“, zeigt sich der Architekt zufrieden. Das Holzhaus steht auf einer Bodenplatte mit einer Treppe zur Aussteifung. Auf einen Keller hat man aus ökologischen Gründen absichtlich verzichtet. Stattdessen befindet sich am hinteren Teil des Grundstücks ein pavillonartiges Zusatzgebäude, das als Garage und Abstellraum genutzt wird.

Bauherr und Architekt freuen sich über das große Echo, das der Bau mit sich bringt. „Schon während der Bauphase und der Schilfdacheindeckung hat das Haus viele Schaulustige angezogen“, weiß Berthold. Der Architekt hofft, dass sich künftig mehr Bauherrschaften für natürliche Materialien wie Lehm, Hanf, Stroh oder Schilf entscheiden. „Wer sich für natürliche Baumaterialien interessiert, findet in mir gerne einen Ansprechpartner“, sagt Berthold. 

Projektdaten

Standort: Weiden am See
Bauherrschaft: Marina Rosa und Jacobus van Hoorne
Fertigstellung: 2022
Planung: Oktober 2018 bis September 2022
Ausführung: Januar 2021 bis Dezember 2022
Architektur: Gilbert Berthold
Holzbau & Tragwerksplanung: Holzbau Kast
Holzmenge: 50 m³ Fichte (ohne Fassade)
Nutzfläche: 115 m²