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© Bernd Fischer

Ein Holzhaus für die Schwächsten

Ein Artikel von Redaktion | 25.01.2016 - 10:04


Armenien wurde 1988 von einem schweren Erdbeben heimgesucht. Es folgten der Austritt aus der Sowjetunion, der Krieg mit Aserbaidschan und eine lange Durststrecke, die der Bevölkerung alles abverlangte. Armenien – am Schnittpunkt der christlichen und muslimischen Kulturen, schon in Asien aber nach der Lebensart und der Mentalität nach Europa orientiert und doch den patriarchalischen Traditionen verbunden. Da haben die Schwächsten unserer Gesellschaft, die behinderten Menschen, keine Lobby, die hinter ihnen steht. Vielfach vermeidet man den Kontakt mit ihnen. Die Caritas Vorarlberg hat in Zusammenarbeit mit der Caritas Armenien eine Tagesstätte für diese Menschen geschaffen. Heimische Unternehmen haben geholfen, dieses Projekt zu verwirklichen.

Viele Österreicher sind hilfsbereit. Das wissen wir nicht erst seit 1956, als Hilfesuchende aus Ungarn hier Aufnahme gefunden haben. Später, als es 1968 zur Tschechenkrise kam, wiederholte sich das nochmals. Und auch aus Anlass vieler Naturkatastrophen im In- und Ausland haben sich Österreicher stets als Helfer ausgezeichnet und immer wieder Leute aufgenommen, die alles verloren haben und vor dem Nichts standen. Hilfsbereite Österreicher haben nicht lange gefragt, sondern angepackt und geholfen.

Armenien, ein schwer geprüftes Land

Im Dezember 1988 legte ein schweres Erdbeben das ganze Land in eine tiefe Krise, die noch heute ihre Auswirkungen zeigt. Damals war Armenien noch eine Teilrepublik der Sowjetunion. Michail Gorbatschow, Zentralsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und Staatspräsident (1990-1991), erklärte den raschen Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, der Industrie- und Wohnanlagen. 1991 erklärte Armenien seine Unabhängigkeit. Daraufhin zogen sich die Sowjets zurück und überließen den „Schutthaufen“ sich selbst. Die daraufhin folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem ursprünglichen „Bruderstaat“ Aserbaidschan um die Siedlungsgebiete der Armenier im Gebiet von Bergkarabach hinterließ dann auch noch tiefe Furchen und löste eine lange Durststrecke in Armenien aus, die mit Mangelzeiten behaftet waren. Die aus der Sowjetzeit stammenden Gebäude weisen eine dürftige thermische Hülle auf. Die kalten, kontinentalen Winterzeiten mit Temperaturen um -25°C ließen die Menschen frieren. Rund um die Ballungszentren und dortigen Parkanlagen wurden Bäume gefällt, um es ein bisschen warm zu haben. Ausländische Investoren haben sich wegen der anhaltenden Konflikte mit Aserbaidschan auch nicht eingestellt und die Grenze zur Türkei war seit jeher schon belastet und geschlossen, da der 1915 von den Türken erfolgte Völkermord an den Armeniern bis dato präsent ist und eine Aussöhnung nur schleppend erfolgt. Es blieben dann nur mehr die offenen Grenzen zum Nachbarn Georgien im Norden und zu Persien (Iran) im Süden, wohin sich die Armenier auch wirtschaftlich orientieren können.

Die armenische Kultur ist sehr patriarchalisch ausgerichtet. Buben dürfen quasi alles, die Mädchen gehen nur in Begleitung der Mutter aus. Behinderte Menschen kommen in dieser Gesellschaft eigentlich nicht vor. Sie werden als Strafe Gottes angesehen und bleiben in den Familien versteckt. Eine geförderte Betreuung dieser Menschen gibt es nicht. Die wirtschaftliche Situation des Landes bekommen die Schwächsten der Gesellschaft noch einmal verstärkt zu spüren.
Schon zu Zeiten des beginnenden Wiederaufbaus nach 1988 hat sich die Caritas Vorarlberg in Armenien engagiert. Ab 2008 wurde auch die Betreuung von Menschen mit Behinderung im Rahmen des Projektes „Aregak – kleine Sonne“ aufgenommen. Bald wurden die Räumlichkeiten zu klein und man überlegte den Bau eines behindertengerechten Hauses. Doch das Geld fehlte an allen Ecken und Enden.

Emil springt ein und hilft. Richard plant. Bernd ist vor Ort.

Der Vorarlberger Unternehmer Emil Nachbaur ist seit einem Unfall vor 42 Jahren querschnittgelähmt. Er gab sich nie seinem Schicksal hin, kämpfte und ist erfolgreicher Unternehmer. Er legte mit einem namhaften Betrag den Grundstein für den Bau einer neuen, den Anforderungen gerechten Tagesstätte für behinderte Menschen in diesem schwer geprüften Land. Das Projekt bekam daraufhin den erweiterten Namen „Emils kleine Sonne – Emil Aregak“. Natürlich war es mit einem Unterstützer nicht getan. Viele Vorarlberger Unternehmen folgten diesem Beispiel, stellten Arbeitsleistung, Gerät und Material zur Verfügung. Mit Architekt Richard Nikolussi (*11.12.1948  †3.8.2015) fand man einen engagierten Planer, der es zu seinem Projekt gemacht hat. Richard hatte einen genialen Motivator im Dokumentarfilmer Harald Hornik zur Seite. 

2012 haben dann die Detailplanungen begonnen. Mit der Expertise vieler uneigennütziger Haustechniker, Elektroplaner, Bauphysiker, Statiker, der Techniker der Zimmerei Michael Kaufmann und von Holzbau Sohm sowie KLH entwickelte Richard Nikolussi ein ebenerdiges, behindertengerechtes, energieautarkes Holzgebäude mit 1400m² Nutzfläche, in dem nicht nur eine Betreuung hinsichtlich der motorischen Fähigkeiten der Kinder, sondern in weiterer Folge auch Tageswerkstätten, ähnlich der „geschützten Werkstätten“, eingerichtet werden sollen.

Am 6. Juni 2013 sind Klaudia und Bernd Fischer aus Lech/Vbg. nach Gyumri/Armenien aufgebrochen, um dort nach zehn Tagen Fahrt durch Österreich, Slowenien, Kroatien, Griechenland, die Türkei und durch Georgien einzutreffen. Eine armenische Baufirma hatte die Errichtung der Fundamente und des Kellers übernommen. Doch wer schon einmal in Armenien war, weiß, dass es unendlich lange dauern kann, bis diese Arbeiten abgeschlossen werden. Schließlich kommt auf diesen Keller ein vorfabrizierter Holzbau aus Österreich, der computerunterstützt geplant und ausgearbeitet wird und eine entsprechende Genauigkeit der Vorarbeiten erforderlich macht. Der überaus erfolgreiche Bankkaufmann Bernd Fischer war sofort bereit, sich sogleich an die Arbeit zu machen, um das zu Hause bei vielen Umbauarbeiten am elterlichen Beherbergungsbetrieb erlernte und angeeignete Bauwissen umzusetzen. Er nahm die Bauleitung in die Hand und war bis zur Fertigstellung die Drehscheibe vor Ort, und Garant für einen erfolgreichen Abschluss. Er war „Mädchen für alles“, musste tagtäglich improvisieren und sich an die Arbeitsmethoden und das Umfeld anpassen. So gibt es in Armenien keinen Baumarkt, den man schnell einmal aufsucht, um etwas nachzukaufen, was in der Werkstätte vergessen wurde. Es gibt keine Nägel oder Schrauben. Alles, was gebraucht wurde, erzählte uns Bernd später, musste an Ort und Stelle gefertigt, improvisiert werden.

Am 11. Juli 2013 erfolgte der erste Eintrag im Blog von Klaudia und Bernd Fischer, der Informationen zum gesamten Bauablauf bis zur Einweihung des Gebäudes und der Heimreise von Bernd am 15. Oktober 2015 lieferte (www.emils-kleine-sonne.at). Das waren zwei Jahre und drei Monate fernab der Heimat ohne Zeitung, ohne Radio, ohne Fernsehen. Die einzigen Informationsquellen waren das Internet und die Telefonate mit Rebecca Nesler vom Architekturbüro Nikolussi-Hänsler, welche die vielen Baufragen von Bernd beantwortete und Projektdrehscheibe in Vorarlberg war. 

Das Grundstück – und sonst nichts.

Ein unbebautes Grundstück in Neu-Gyumri, angrenzend an das Austria Dorf, welches nach dem schrecklichen Erdbeben von 1988 errichtet wurde, konnte von der Caritas Armenien angekauft werden. Da war keine Infrastruktur, wie wir sie in Österreich erwarten würden. Kein Stromanschluss, kein Kanal, kein Wasseranschluss. In der Zimmerei Michael Kaufmann im Bregenzerwald wurden im Juli 2013 zwei Raumzellen mit KLH-Elementen angefertigt und per LKW nach Gyumri gebracht. Die Adresse lässt auf ein wenig Heimweh schließen. Fontanella, Neu-Gyumri, Armenien.

Nach Abschluss der Keller- und Fundamentarbeiten wartete man in Armenien gespannt auf die weitere Bauphase. Holz ist in diesem Land eine Mangelware und am Bau fast unbekannt. Es musste bei den Baubehörden viel Überzeugungsarbeit geleistet werden und die Angst vor weiteren Erdbeben war aus allen Gesprächen mit den zuständigen Beamten herauszuhören. Kann Holz all diese Anforderungen überhaupt erfüllen? Und wie soll das mit einem völlig energieautarken Gebäude funktionieren? 
Holzbau-Meister Andreas Schwärzler von Sohm Holzbau lieferte die Werkpläne und dachte über all die Hilfsmaterialien, Verbindungsmittel und Werkzeuge nach, die dann in Gyumri benötigt wurden. Die komplizierten Zollformalitäten außerhalb der Europäischen Union mit dem Weg über den Balkan, durch die Türkei und durch Georgien, erforderten die Ausstellung aller Frachtpapiere in sechsfacher (!) „Originalausfertigung“. Wegen dieser komplizierten Prozedur und des teuren Transports musste so geplant werden, dass ein Großteil der Werkzeuge und Maschinen in Gyumri verbleiben sollte. Bernd Fischer erzählte uns anlässlich des Besuchs zur Eröffnung, wie froh er war, in weiterer Folge geeignetes Werkzeug in österreichischer Qualität zur Verfügung zu haben.

Zeitgleich mit den Zimmerleuten trafen auch die Lieferungen aus Katsch an der Mur und dem Bregenzerwald am 1.6.2014 ein. Michael Kaufmann brachte auch „Michaela“ mit, ein Nebengebäude zur Fontanella. Die Montagearbeiten wurden sogleich in Angriff genommen. Die Wände wurden in KLH-Industriesichtqualität und die Dachelemente mit Sohm-Dübelholz gefertigt. Wie bei einem riesigen, überdimensionalen Steckspiel agierten die Zimmerleute bei der Montage und bald zeigte sich das Gebäude in seinen klaren Umrissen mit den lichtdurchfluteten Räumen und den warmen, angenehmen Farben der naturbelassenen Holzelemente. Schon am 11. Juni feierte man 4000km fernab der Heimat die Firstfeier, eindrucksvoll und stimmig umrahmt mit einer musikalischen Einlage von Holzbau-Meister Michael Kaufmann. Am 9. September beehrte Österreichs Außenminister, Sebastian Kurz, die Baustelle. 
Die Arbeiten wurden bis in den November hinein fortgeführt. Schließlich konnte noch der Parkettboden verlegt werden, bevor die Baustelle von Mitte November 2014 bis Januar 2015 ruhte.
Schon im kalten Januar, als die Arbeiten wieder aufgenommen wurden, konnte man die Vorzüge des Gebäudes spüren. Außerdem hatte man schon eigenen Strom aus der Photovoltaikanlage und die überaus gute Gebäudehülle ließ die Innentemperatur nie unter 16° C sinken, obwohl es in Armenien sehr kalte Winter gibt und die Windbelastung mit der in unseren alpinen Regionen vergleichbar ist.

Ein überaus schwarzer Tag

Als wüsste es der Himmel, wurde es am 3. August 2015 in Gyumri dunkel und die Nachricht vom Tod des Architekten Richard Nikolussi erreichte die Mannschaft von Emils kleiner Sonne. Trotzdem musste es weitergehen und schweren Herzens setzte man das Werk von Richard fort. Wie gerne hätten wir ihn alle am 26. September in Gyumri auf der Eröffnungsfeier erlebt!

Die Kinder strahlen

Am 24. September machte sich eine große Abordnung aus Vorarlberg auf den Weg nach Gyumri. Helfer, Sponsoren, Handwerker, Ingenieure, die am Bau in irgendeiner Form mitgearbeitet haben, waren schon gespannt, das nun fertiggestellte Gebäude zu erleben. Natürlich war es für alle Beteiligten ein schöner Augenblick. Aber umso schöner war es, die strahlenden Kinderaugen zu sehen und aus den Erzählungen der Betreuer zu erfahren, welche Auswirkungen es auf sie hat, in einer warmen, lichtdurchflutenden Umgebung zu sein, sich entsprechend bewegen zu können und welche Entwicklungen so manches Kind seit dem Einzug gemacht hat. Und dieser Anblick der Kinder, das Lachen, die funkelnden Augen, die Herzlichkeit und Wärme, die diese Kinder einem entgegenbringen, sind der Lohn für viele unentgeltliche Stunden und auch Motivation für alle Beteiligten und die Therapeuten, die mit den Kindern arbeiten. Erst wenn man sieht, wie so eine Arbeit vonstattengeht, wie viel Energie von Mensch zu Mensch fließt und wie viel Nächstenliebe notwendig ist, diese Arbeit machen zu können, kann man verstehen, welches Geschenk diesen Kindern widerfahren ist. Man fühlt sich wohl beim Gedanken, dieses Projekt unterstützt und dabei mitgewirkt zu haben.

Bernd Fischer führte durch das Gebäude, erklärte die technischen Einrichtungen und erzählte wie eine derart ausgeklügelte Baustelle hier in Armenien funktionieren konnte. Der Erzbischof von Gyumri weihte das Gebäude am 26. September, die Kinder trugen einstudierte Gedichte vor, sangen Lieder und es gab ein tolles Fest mit allen Arbeitern und den Nachbarn. 
Für uns hier in Mitteleuropa ist die Errichtung eines solchen Bauwerkes mit all seinen technischen Raffinessen und der uns selbstverständlichen Perfektion zur Alltäglichkeit geworden. Es scheint, dass das Perfekte ganz normal wäre. Wenn man aber die Lebensumstände der Menschen in Armenien (oder in anderen Regionen der Welt) betrachtet und diese unserer Überflussgesellschaft gegenüberstellt, relativieren sich viele Dinge. Und dann wird einem wieder bewusst: „weniger ist mehr!“

Die Mitarbeiter in den unterstützenden Unternehmen haben sich mit diesem Projekt identifiziert. Besonders jene, die vor Ort waren und die Dankbarkeit der armenischen Bevölkerung erfahren durften, fuhren hoch motiviert wieder nach Hause. Es gibt doch nichts Schöneres, als Kinder glücklich und unbeschwert zu erleben.

Es gäbe noch vieles zu diesem Projekt zu berichten. Bernd und Klaudia Fischer haben eine wunderbare Baudokumentation erstellt, die auch mit all ihren Emotionen das beschreibt, was dieser Bericht nicht zutage fördern kann. www.emils-kleine-sonne.at