Blume_2_01.jpg

Die Ausführung macht den Neubau deutlich erkennbar, verweist durch Volumetrie und Materialität jedoch auf seine ursprüngliche Bestimmung.  © Ramon Spaeti

Der Trick mit dem Knick

Ein Artikel von Redaktion | 24.02.2017 - 11:01

Ein barockes Bauernhaus inmitten der Schweizer Gemeinde Löhningen ist Teil einer charakteristischen Zeilenbebauung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Dörfern und Städten üblich wurde. Wo einst die Scheune stand, klaffte jahrelang eine Lücke. Ein Neubau in Holzbauweise, der das Haupthaus erweitert, wurde in diese Leerstelle eingepasst. Das Ergebnis ist ein neues Ensemble, das zwei großzügige und flexibel nutzbare Wohneinheiten mit unterschiedlichen räumlichen Qualitäten vereint.

Vielerorts, vor allem am Land, sieht man sie noch immer: die traditionsreiche Zeilenbauweise – eine Bauform, deren unsystematische Vorläufer bereits in den Werkssiedlungen des 19. Jahrhunderts zu finden sind und die auf eine optimale Ausrichtung aller Gebäude zu Luft und Sonne setzt. Mit begrünten Zwischenräumen stehen die Häuser in Reih und Glied und suggerieren so den Eindruck von Monotonie und fehlender Individualität. Aus diesem Grund sollte man diesen alten Gebäuden bei einer Bestandssanierung und -erweiterung besonders viel Aufmerksamkeit widmen. Gewiefte Architekten erkennen schnell die Potenziale, die in diesen abgewohnten Schätzen stecken.

Alt und Neu erlebbar machen

Mit Liebe zum Detail näherte sich auch das Schweizer Planungsbüro Marazzi Reinhardt einem barocken Bauernhaus in Löhningen, einer 1400-Seelen-Gemeinde im Kanton Schaffhausen. Unter dem Projektnamen „Zur Blume“ wurde in eine Baulücke ein Ersatzneubau eingepasst, der modern an den Bestand anschließt und zwei neue Wohneinheiten schafft. „Das Ziel des Erweiterungsbaus bestand darin, beiden Wohnungen die räumliche Vielfalt eines Hauses zu geben: einen ebenerdigen Zugang, zwei Geschosse, einen Keller und private Außenräume. Beide Parteien sollen zudem von den unterschiedlichen Vorzügen des Alt- und Neubaus profitieren. Deshalb setzen sich die Apartments aus Einheiten im alten und neuen Hausteil zusammen. Miteinander verbunden sind sie über Kreuz“, erklärt Sergio Marazzi. Eine aufgrund der Dorfkernzone und der engen Bauverhältnisse schwierige Ausgangssituation beschreibt Marazzi als Chance auf spannende Lösungen. „Wichtig dabei ist natürlich, dass die Bauherrschaft, die Behörden und das ausführende Unternehmen von Anfang an miteinbezogen werden“, so der Architekt. Erst in enger Zusammenarbeit mit allen Akteuren und im Besonderen mit der Denkmalpflege habe man eine radikale Lösung für den Anbau umsetzen können. Der Bestand wurde aufwendig restauriert und erhalten. Das Objekt steht jetzt unter Denkmalschutz.

Hülle und Körper des Ersatzneubaus

An die Stelle der Stallscheune setzten die Planer eine Hülle aus Fichtenholzständern. Diese wurde sowohl im Wand- als auch Dachbereich offen ausgeführt. „So konnten wir einen großen Lichteintrag erzielen. In der Bewegung ergeben sich für den Betrachter spannende Ein- und Durchblicke. Die Ausführung macht den Neubau deutlich erkennbar, verweist durch Volumetrie und Materialität jedoch auf seine ursprüngliche Bestimmung“, weiß Andreas Reinhardt. Die beiden Inhaber des Planungsbüros kommen vom Fach und haben schon früh ihre Leidenschaft für das Material Holz entdeckt. Sergio Marazzi absolvierte vor seinem Architekturstudium eine Schreinerlehre und Reinhardt erlernte den Beruf des Zimmermanns.

„Wollen keinen Sondermüll produzieren“

Auch deshalb fiel bei diesem Projekt schnell die Entscheidung für den nachhaltigen Baustoff: „Bei An- und Zubauten kann man sich eigentlich nur pro Holz entscheiden. Meist ist eine schnelle Bauzeit wichtig, weil die Objekte ja bewohnt sind. Diese kann nur mit einem Elementbau garantiert werden. Mit Holz sind zudem schlankere Konstruktionen möglich, da auch in der tragenden Schicht gedämmt werden kann. Generell gefällt uns die Alterung und Patina von Holz sowohl innen wie außen sehr gut. Es kann sich dadurch auch viel besser an Bestandsobjekte anpassen. Und zu guter Letzt zählt natürlich die Ökobilanz. Schließlich wollen wir keinen Sondermüll produzieren“, zählt Marazzi nur einige Vorteile auf. Straßenseitig verformt sich die hölzerne Gebäudehülle nur zurückhaltend und garantiert ein geschlossenes Erscheinungsbild. Auf der Rückseite wird damit spielerischer umgegangen. Nur so konnten die Planungsprofis besser auf die neue Wohnnutzung eingehen. Die Fassade – ebenfalls aus Fichtenholz – übernimmt anfänglich das Profil des bestehenden Wohnhauses inklusive des Dachbruchs, um sich dann leicht zu knicken und seiner jetzigen Verwendung anzupassen. „Unser Ziel war es, dem liegenden Dachstuhl des Bestandes eine Referenz zu erweisen und ebenfalls eine stützenfreie Dachkonstruktion zu errichten. Durch das gefaltete Dach konnten diese Kräfte aufgenommen werden. Konstruktiv war dies aber die größte Herausforderung. Nur dank einer Sondergenehmigung der Baupolizei konnten wir auch das Dach aus Holzlamellen fertigen und dadurch die radikale Gestaltung durchziehen“, weiß Marazzi.

Bestand wurde sanft saniert

Das bestehende Anwesen wurde strukturell belassen und nur sanft saniert. Die antiken Öfen spielen im Heizungskonzept eine zentrale Rolle. Der Dachraum bleibt unbeheizt. Dadurch konnte der Keller von jeglicher Haustechnik freigehalten werden. „Wir wollten nur zurückhaltend in den Bestand eingreifen und alles so belassen, wie es einmal war. Dieses Haus hat Geschichte geschrieben und seine Vergangenheit soll auch weiterhin in der Innenausstattung sichtbar bleiben“, erklärt Reinhardt. Dadurch konnten die Architekten die atmosphärischen und strukturellen Raumqualitäten herausarbeiten und erlebbar machen. Selbst der gewölbte Naturkeller ist in seiner ursprünglichen Form geblieben. „Der Erweiterungsbau hingegen unterscheidet sich durch eine sparsame Ausformulierung vom historischen Bestand. Er sucht seinen Reichtum in der Raumgeometrie und der Lichtführung. Da es sich jedoch nicht mehr um eine Scheune, sondern um Wohn- und Arbeitsräume handelt, wollten wir die Innenwände veredeln, ohne den Bezug zu früher zu verlieren. Darum wurden die Dreischichtplatten weiß lasiert“, so Marazzi abschließend. 

Projektdaten

Standort: Löhningen, CH
Fertigstellung: 2013
Architektur: Marazzi Reinhardt
Holzbau: Bündig Holzbau
Tragwerksplanung: Krattiger Holzbau Engineering
Holzmenge: 24 m3