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© Andrea Christofi-Hunziker

Viel Licht, keine Sonne

Ein Artikel von Redaktion | 28.09.2017 - 12:32


Ein polygonaler Grundriss, der Blick Richtung Himmel und ein ausgeklügeltes Licht- und Farbkonzept – der Architekt Thomas Stettler überließ nichts dem Zufall. Entstanden ist ein Wohnhaus mit außergewöhnlicher Atmosphäre und unerwarteten Ein- und Ausblicken.

Was passiert, wenn sich der Neubau eines Wohnhauses sehr vielen Gegebenheiten anpassen muss? Kann daraus gute, gar großartige Architektur entstehen? Oder ist jeglicher Entwurfsversuch zum Scheitern verurteilt? Der Architekt Thomas Stettler hat auf diese Fragen eine beeindruckende Antwort gebaut – und ein Haus geschaffen, in dem die Sonne nur selten zu Gast ist, das indirekte Licht im Tagesverlauf aber unglaubliche Stimmungen entfesselt. Ein Schuppen und ein Hühnerstall standen ursprünglich auf dem unregelmäßig geschnittenen Baugrund im schweizerischen Jegenstorf, eingeklemmt zwischen zwei alten Bauernhäusern. Die schmale Südseite des Grundstücks grenzt an eine stark befahrene Straße, der Baugrund hat eine leichte Hanglage. Zu dieser Konstellation kamen die Bedürfnisse der Bewohner, der Wunsch nach Privatsphäre und einer Trennung der Bereiche „Leben“ und „Erholen“. Der Architekt und Bauherr ging mit einem philosophischen Ansatz an sein Werk: Der Neubau sollte dieselben Abdrücke im Grund hinterlassen, die durch die alte Bebauung gegeben waren, und seine leichte, fast fliegende Konstruktion nur in wenigen Punkten im Boden verankert sein. Die Architektur sollte sich an den Bestand angleichen, aber nicht anbiedern. 

Keine gerade Linienführung

Auf dieser Basis entstand ein polygonaler Grundriss, der sich gen Nordosten verbreitert. Ein großer und ein kleiner Lichthof durchschneiden die unregelmäßige Form. Durchgehende Geradlinigkeit ist nur auf den ersten Blick gegeben: Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass der Baukörper sich an vielen Stellen aus den geraden Achsen herausdreht. Selbst das baulich vorgeschriebene Satteldach hält sich nicht an Konventionen: Verläuft der First ungefähr bis zur Mitte waagerecht, ändert er dann seine Lage und steigt leicht gen Himmel an – er wird zum „fliegenden First“ und unterstützt so den Gedanken der leichten, wenig verankerten Konstruktion. Nähert man sich dem Haus von der südlichen Giebelseite, blickt man auf die homogene Fassade aus vertikal verlegten, geflämmten, gebürsteten und geölten Lärchenbrettern. Zwei fast unsichtbare Türen sind die erste Barriere, der eine sorgfältig abgestimmte Komposition ansteigender Privatheit folgt. Ein schmaler Flur führt zum Lichthof, den der Besucher durchquert, um zur Haustür zu gelangen. Über große Glasfassaden sind erste Einblicke ins Haus möglich.

Sorgfältige Zonierung 

Hinter der Haustür liegt ein freundlicher Eingangsbereich, der ganz von seinem Bodenbelag bestimmt ist. Die Zementfliesen mit historischem Muster sind eine Reminiszenz an die umliegenden Bauernhäuser und zeigen eine gewisse Distanz, die diesen Bereich von den privateren Räumen trennt. Diese Art der Zonierung erstreckt sich durch das gesamte Haus. Das in vielen Räumen verlegte Parkett aus breiten Eichenbrettern lässt sich zu unterschiedlichen Mustern legen und variiert je nach Raumfunktion. Ein geschliffener, eingefärbter Estrich trägt die Küche, den Lebensraum der Familie. Sie befindet sich im Nordteil des Erdgeschosses und kommuniziert über große Glasfassaden mit der Außenwelt. Ein Flur führt in das im Südteil gelegene Atelier, das sich zum Lichthof hin öffnet. Zwei Treppenaufgänge weisen den Weg ins Obergeschoss. Was wie Überfluss wirken mag, ist vorausschauende Planung: Das Haus lässt sich leicht in zwei getrennte Wohneinheiten aufteilen. Das Obergeschoss, das bis zum First eine beachtliche Raumhöhe aufweist, nimmt Räume auf, die nach mehr Privatsphäre verlangen. Darunter fällt auch der große Wohnraum, der mit seinen Westfenstern als einziger Raum direktes Licht bekommt und die „Erholungszone“ der Familie ist. Die tiefen Sitznischen machen ihn zu einem Aussichtspunkt. Dicke, schwere Wollvorhänge schützen bei Bedarf vor Einblicken.

Himmel im Haus

Im Nordosten der Etage befindet sich ein geschickt ineinander verschachtelter Bereich, der mit einem unerwarteten Element punktet. Denn Schlafraum und Bad gruppieren sich um einen weiteren Lichthof, der fremde Blicke komplett aussperrt, aber reichlich Tageslicht bringt. Wieder ist die Perspektive vorgegeben. „Die einzige freie Blickrichtung, die wir für dieses Haus generieren konnten, war der Himmel“, erläutert der Architekt Thomas Stettler, der bei der Tageslichtplanung nichts dem Zufall überließ. Anhand von Modellen und Skizzen erarbeitete er die Lichtführung präzise und schöpfte verschiedene Möglichkeiten aus. Der große Lichthof ist gen Westen fast vollständig geschlossen, sodass hier nie direktes Licht ins Haus fällt. Somit entfällt auch die Installation eines Sonnenschutzes, vor neugierigen Blicken schützen die erwähnten Wollvorhänge und leichte, halbtransparente Leinenstoffe im Küchenbereich. Eine besondere Installation erhielten die Kinderzimmer im südwestlichen Teil des Hauses. Faltfensterläden und Lichtschlitze in der Fassade belichten die Kinderzimmer, ohne zu viel aus dem Inneren preiszugeben. Ein kleiner Balkon schafft eine Barriere zum Außenraum. Generell entschied sich der Architekt und Bauherr, das direkte Sonnenlicht im Tageslichtkonzept kaum zu berücksichtigen, sondern das indirekte Licht zum Thema des Hauses zu machen. Nur in den Wintermonaten schafft es die tief stehende Sonne, weiter in die Räume vorzudringen. Das diffuse indirekte Licht gibt dem Haus ein besonderes Ambiente, das stark von Wetter und Tageszeiten abhängig ist.

Farben und Material genau geplant

Ein Architekt, der sich intensiv mit Lichtplanung und Bodenbelägen auseinandersetzt, überlässt natürlich auch die Wahl von Farben und Materialien nicht dem Zufall. Die innere Farbgebung, die Wahl der Bodenbeläge und das Kunstlichtkonzept entwickelte seine Partnerin, Innenarchitektin Monica Berger. Dass der Bau aus Holz sein sollte, war von Anfang an klar. Auch die Fassadenwahl war schnell geklärt: Da die umliegenden Bauernhäuser teils über einhundert Jahre alte geflämmte Fassaden haben, hat Stettler diese Ausführung übernommen – auch aus praktischen Gründen, wie dem Schutz vor Pilzbefall und der gleichmäßigen Alterung des Holzes. War die Fassade zu Beginn cognacbraun, setzt nun die Vergrauung und die Reduktion der Verbrennung ein. Bewusst entschied sich der Architekt an vielen Stellen gegen sichtbares Holz. Während Holzbau-Meister Thomas Berchtold gern auch im Lichthof sichtbares Holz verbaut hätte, setzte der Planer auf Putzträgerplatten. Im Innenraum kamen Gipskartonplatten zum Einsatz, die jedoch nicht nur mit weißer Farbe gestrichen wurden. Stettler entwickelte ein Farbkonzept. Anstatt Reinweiß zu verwenden, mischte er eine „Hausfarbe“, die fast überall Verwendung findet. Nur wenige Räume sind andersfarbig und mit Akzenten wie z.B. Tapeten versehen. Den optimalen Farbton ermittelte Stettler mit Mustern vor Ort. Selbst die raumhohen Türen, die bündig verbaut sind, sind mit „Hausfarbe“ gestrichen und verschmelzen optisch mit den Wänden. Absetzen durften sich die Holz-Alu-Fenster: Sie wurden innen palisanderfarben gebeizt.

Gutes Zusammenspiel

Dass Konstruktion und Statik des komplexen Baus nicht einfach waren, liegt auf der Hand. Hinzu kam der Anspruch, wenige Fixierpunkte zu realisieren. Die polygonale Bodenplatte wurde vor Beginn der Vorfertigung gegossen, um Maßtoleranzen zu minimieren. Die Lastabtragung im Erdgeschoss bereitete dem Holzbauer Kopfzerbrechen, da wenige Stützen vorgesehen waren. Schließlich wurden zwei Wände betoniert, die einen Großteil der Lasten des Obergeschosses abtragen. Die Last der nördlichen Giebelseite und des Firsts nehmen einbetonierte V-Stahlstützen an der Nordseite auf. Die Wände sind als Holzriegel-Konstruktion mit Zellulosedämmung ausgeführt. Eine Holzbalkendecke trennt die Geschosse. Der First ist aufgrund der großen Spannweiten als Fachwerk ausgeführt. Die Haustechnik ist übersichtlich. Solarkollektoren auf dem Dach fangen die Sonnenenergie ein. Auch ohne direkte Sonneneinstrahlung erreicht das Haus Passivhausstandard. Auf eine Komfortlüftung wurde verzichtet, der notwendige Luftaustausch erfolgt über Fensterlüftung. 

Führt ein Haus mit so vielen Eigenheiten zu besonderen Herausforderungen im Zusammenspiel von Planer und Holzbauer? Die gute Planung und der klare Zeitplan sorgten für einen weitgehend reibungslosen Bauablauf. Unterschiedliche Ansichten hört man nur in einem Punkt heraus: Die Sichtbarkeit des Holzes wäre dem Handwerker ein grundsätzliches Anliegen. Der Architekt argumentiert nicht nur finanziell dagegen, sondern verweist auch auf den Plan der Farbgebung, der die Materialwahl miteinbezieht. Auf die Frage, warum er für das Schweizer Haus keinen Schweizer Holzbauer beauftragt habe, setzt er ein deutliches Statement: „Wenn Du inpuncto Holzbau etwas richtig Gutes haben möchtest, dann gehst nach Österreich!“ 

Projektdaten

Standort: Jegenstorf, CH
Fertigstellung: Okt. 2014
Planung: TSAP AG Architekten und Planer
Ausführung: Berchtold Holzbau
Nutzfläche: 160 m² Wohnfläche + 60 m² Nutzfläche
Energiestandard: Passivhaus