Tokio – nur einen Katzensprung entfernt

Ein Artikel von Birgit Gruber | 13.06.2019 - 08:42
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Das Minihaus ist nicht breiter als fünf Meter. © Tor O. Austigard

Tokio ist ohne Zweifel eine der polarisierendsten Hauptstädte dieser Welt. Auf den ersten Blick chaotisch und von unüberschaubarem Ausmaß, versucht man sich als Tourist im Gewirr aus Neonreklamen, japanischen Schriftzeichen und Menschenmassen zurechtzufinden. Die Stadt ist riesig. Mehr als neun Millionen Einwohner drängen sich im dicht besiedelten Ballungsraum. Wie überall in Japan sind auch in Tokio die Dimensionen extrem. Architektonisch betrachtet, ist groß dort riesig und klein gleich winzig. Der Großteil der Bevölkerung lebt in Häusern mit weniger als 100 m2. Das Stadtbild ist in den dezentralen Siedlungsgebieten von diesen minimalistischen Einfamilienhäusern gekennzeichnet.

Ressource Grundfläche ist rar

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Lückenfüllung auf Norwegisch.  Im dicht besiedelten Stavanger reichten 5 m Breite, um sich den Traum vom Holzhaus zu erfüllen. © Tor O. Austigard

Die Typologie des kleinen Wohnhauses hat also in der japanischen Architektur lange Tradition und wird doch von jeder Generation neu interpretiert. Junge japanische Avantgarde-Architekten entwickelten in den vergangenen Jahren anhand des Themas der Minihäuser neue räumliche Konzepte und interessante Lösungen, die für die Auseinandersetzung mit der Ressource Grundfläche weltweit als vorbildhaft angesehen werden können. „Grau, eng und gleichförmig bedecken Gebäude und Straßen die Oberfläche bis hin zum Horizont. Minihäuser zeigen uns dort die unmöglichen Möglichkeiten und verdeutlichen die Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Enge des Raumes”, weiß Architekt Tor O. Austigard. Der Begriff „mini“ sei somit nicht nur klischeehaft als japanisches Thema zu verstehen, sondern weise auf eine globale, urbane Zukunft hin.

Kleine Häuser als Schutz vor rauem Klima

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Eine schmale Treppe führt auf die Dachterrasse. © Tor O. Austigard

Austigard, der in Oslo sein gleichnamiges Architekturbüro leitet, hat drei Jahre in Japan studiert und gearbeitet. Bei seinen aktuellen Projekten hat er sich von der Megacity inspirieren lassen. Tokio war für ihn gedanklich also nur einen Katzensprung entfernt, als Austigard in der norwegischen Küstenstadt Stavanger plante. Bereits 2016 hat er dort ein Einfamilienhaus errichtet, das mit seinen nur 3,6 m breiten Grundmauern als das schmalste Haus des Landes gilt. „Die Planung des Hauses war innerhalb der geltenden norwegischen Bauvorschriften eine große Herausforderung“, gibt Austigard zu. Nur 100 m entfernt, ebenfalls an der Langgata –, so der Straßenname – befindet sich das hier vorgestellte Projekt. Das sogenannte „ABC-Haus“ kann in vielerlei Hinsicht als Fortsetzung seiner Liebe zur japanischen Baukunst gesehen werden. „Das Projekt setzt die Tradition des kleinteiligen, hoch verdichteten städtischen, Wohnungsbaus in der Küstengegend fort. Der Platzmangel in der Region ist tatsächlich mit jeder asiatischen Metropole vergleichbar und bietet den dort lebenden Menschen in puncto Wohnen ungeahnte Möglichkeiten”, weiß der Planer. Diese Art des dichten Bauens maximiere die Energieeffizienz, den Zugang zu Tageslicht und biete außerdem Schutz vor dem rauen Küstenklima.

Fassade spiegelt den Tagesverlauf wider

Das 90 m2 große Haus wurde vom örtlichen Generalunternehmen Haga Bolig komplett in Holzständerbauweise errichtet und mit Holzfaser gedämmt. Die Fassade wurde mit einer Kiefernlattung versehen. Sie soll mit ihren unterschiedlichen Anstrichen den Tagesverlauf der Hausbewohner widerspiegeln und teilt das Innere des Hauses in drei Bereiche: das zweckmäßige Erdgeschoss, das Wohnzimmer im mittleren Stockwerk und die Küche im oberen Stockwerk. „Die Küche sollte ein heller Raum mit viel Tageslicht sein und einen Blick auf die umliegende Dachlandschaft von Stavanger bieten. Die Küche bietet außerdem Zugang zu einer großen Dachterrasse sowie einer – nach Süden ausgerichteten – kleinen, teilweise begrünten Fläche”, erklärt Austigard. Im Gegensatz dazu ist das Wohnzimmer darunter laut dem Architekten eine intime, sichere Höhle, in der das unmittelbare urbane Leben entlang der Straße über ein großes Fenster sichtbar wird, aber dennoch in nötiger Distanz bleibt. „Das Spiel mit hellen und dunklen, offenen und intimen Räumen wird mit dem Wechsel von lichten Kiefernböden und schwarzer Buchenwände zusätzlich unterstrichen”, gibt Austigard an. Eine Holztreppe verbindet alle Räume. Die enge des Bauplatzes sei eine große Herausforderung für alle beteiligten Gewerke gewesen. „Inmitten des Stadtzentrums mussten wir bei der Materialzubringung vor allem auf die vielen Passanten achtgeben”, so Austigard.

Bevölkerungswachstum erfordert Kleinhaustypologien

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© Tor O. Austigard

Die Nachfrage nach leistbarem Wohnraum in den größten Städten Norwegens steigt mit dem anhaltenden Bevölkerungswachstum. Norwegen punktet, wie auch die anderen skandinavischen Länder, mit einer allgemein hohen Lebensqualität, die diesen Trend begünstigt. Seit den 1960er-Jahren bis heute hat sich die Bevölkerung in Norwegen laut Statistischem Bundesamt Destatis bis heute nahezu verdoppelt. Jedes Jahr werden auf nationaler Ebene insgesamt 10.000 Wohnungen zu wenig gebaut, davon alleine 4000 in Oslo, so der Verband der Wohnbauunternehmen. Austigard glaubt, dass die Erhöhung der Bebauungsdichte dazu beitragen, den Wohnungsmangel in Großstädten in den Griff zu bekommen. Zudem habe der Bau schmaler Holzhäuser in nordischen Küstenstädten, wie zum Beispiel Risør, eine lange Tradition. „In den vergangenen 50 Jahren ging der Mainstream beim nordischen Wohnungsbau jedoch eher in Richtung Einfamilienhäuser auf ausladenden Grundstücken in den Vororten. In den Städten hat man stattdessen groß angelegte Wohnungsbauprojekte geplant“, weiß Austigard. Beides passt seiner Meinung nach aber nicht zu Land, Leuten und Klimabedingungen. Eine Wiederbelebung der kleinräumigen, hochdichten, nordischen Stadthaustypologien wäre notwendig.

„In Stavanger haben beide von meinem Büro geplanten Häuser viel Aufmerksamkeit erregt. Ich hoffe, dass sich diese Kleinhaustypologien in den Köpfen der Politiker, Bürokraten, Immobilienentwickler und Stadtbauverantwortlichen verfestigen und wieder mehr in den Mittelpunkt rücken“, so Austigard

Projektdaten

Standort: Stavanger
Bauherrschaft: Haga Bolig
Fertigstellung: 2019
Planung: Austigard Arkitektur
Holzbau: Haga Bolig
Holzfaserdämmung: Hunton
Wohnfläche: 90 m2
Holzmenge: 40 m3 inkl. Holzfaserdämmung