Eiserne Lady mit Holzkern

Ein Artikel von Birgit Gruber | 09.12.2020 - 09:05
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Das riesige Gebäude besteht aus drei größeren und vier kleineren Hallen. Unter den bestehenden Dächern der Seitenschiffe wurden zwölf neue Baukörper. © Filip Dujardin

Der zwischen 1902 und 1907 erbaute Gare Maritime war eine der ersten multimodalen Frachttransport-Plattformen der Welt – unter Einbeziehung von Wasser, Straße und Schiene. Er wurde bald zum wichtigsten Eisenbahnknotenpunkt Brüssels und zur Drehscheibe einer blühenden Wirtschaft. Das Bauwerk mit einer Grundfläche von 276 mal 138 m befindet sich nordwestlich des Stadtzentrums auf einem 37 ha großen Gelände, das im Familienbesitz des Adelsgeschlechts Thurn und Taxis ist. Das Areal ist deshalb heute auch nur schlicht unter „Tour & Taxis“ bekannt. Am Standort befinden sich große Lagerhallen und Büros, die den ehemaligen Güterbahnhof und dessen geräumige zentrale Halle, bekannt als das Königliche Depot, umgeben. Die Hauptgebäude auf dem Gelände bestehen aus Ziegelstein, Glas und Schmiedeeisen und sind Musterbeispiele der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts. Mit der wirtschaftlichen Umgestaltung Europas verlor der Bahnhof in der Nachkriegszeit jedoch zunehmend an Bedeutung. In den 1990er Jahren standen die meisten Gebäude leer und zum Verkauf. Der Bauträger Extensa erwarb einen Teil des Geländes 2001 gemeinsam mit anderen Parteien und kaufte 2014 den Rest dazu. Ein Großteil der errichteten Lagerhallen wurde saniert und als Event-, Gastronomie- und Gewerbeflächen umgenutzt. Große kulturelle Veranstaltungen wie die Art Brussels oder der Salon du Chocolat gingen bis zum Start einer groß angelegten Revitalisierung über die Bühne. Kevin De Neve, Bauleiter bei Extensa, verriet, dass die 60 Mio. € teure Renovierung ursprünglich ohne die Einbeziehung eines Architekten begonnen wurde. Aber eine Skizze von Willem Jan Neutelings hätte den Konstruktionsleiter dazu veranlasst, das Gespräch mit dem Rotterdamer Architekturbüro zu suchen. Neutelings hatte nämlich eine klare Vorstellung davon, wie man neue Volumina in den alten Bahnhof einfügen und der „Eisernen Lady“– wie der Architekt das Gebäude gerne nennt – eine neue Innenstruktur verpassen könnte.

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Die zwölf Pavillons schaffen eine neue Struktur aus Boulevards und Straßen, Parks und Plätzen. Diese folgt dem bestehenden städtischen Kontext und der Gebäudestruktur auf natürliche und logische Weise – wie eine echte Stadt. © Filip Dujardin

Konzept einer Stadt, in der es nie regnet

In Zusammenarbeit mit den Antwerpener Bauingenieuren Bureau Bouwtechniek verwandelten die Planer die drei großen und vier kleineren Eisenbahnhallen, die ohne Trennwände miteinander verbunden sind, in eine überdachte Kleinstadt. Dazu wurden nach sorgfältiger Renovierung der Stahlträgerstruktur unter Leitung von Jan de Moffarts Architecten aus Brüssel in den Seitenschiffen zwölf mehrgeschossige Pavillons aus Brettsperrholz mit Eichenfassaden hinzugefügt. „Wir entwickelten das Konzept einer Stadt, in der es nie regnet. Der Plan beinhaltete zwölf separate Innengebäude, die unter den Bögen platziert werden und dem Rhythmus der bestehenden Struktur folgen. Das Gefühl einer lebendigen mediterranen Stadt wird vermittelt, in der es zu jeder Jahreszeit angenehm ist, spazieren zu gehen“, berichtet der Architekt. Insgesamt 45.000 m2 wurden so einer neuen Nutzung zugeführt.

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Anordnung der sieben miteinander verbundenen Hallen. © Neutelings Riedijk Architects

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Die Hallen mit dem neuen „Innenleben“. © Neutelings Riedijk Architects

Mediterranes Klima und viel Grün

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Das Herzstück des Gebäudes bleibt für öffentliche Veranstaltungen offen und wird von 16 m breiten Fußgängerwegen mit großzügigen Grünflächen gesäumt. Landschaftsgärtner entwarfen dafür insgesamt zehn Gärten zu vier Themenbereichen. © Filip Dujardin

Nun gibt es schön restaurierte Bahnhöfe auch anderswo. Schaut man nach England zum Beispiel, kommen einem gleich beeindruckende Stationen wie der Coal Drops Yard am King‘s Cross im Zentrum Londons oder Canary Wharf in den Docklands in den Sinn. Letztere erhielt ein beeindruckendes Holzdach des österreichischen Unternehmens Wiehag. Doch was unterscheidet Gare Maritime von den anderen beeindruckenden Exempeln? In Brüssel entstand durch den Umbau ein modernes und lichterfülltes Quartier mit viel Holz und Glas, in dem man entweder seine Freizeit verbringt, einkaufen geht oder arbeitet. „Das Klima Barcelonas in Brüssel“ – so beschreibt Extensa die überdachte Stadt, deren zentrale „Rambla“ mit einer Länge von fast 280 m seine Besucher beeindruckt. Das Herzstück des Gebäudes bleibt für öffentliche Veranstaltungen offen und wird von 16 m breiten Fußgängerwegen mit großzügigen Grünflächen gesäumt. Landschaftsgärtner entwarfen dafür insgesamt zehn Gärten zu vier Themenbereichen: den Waldgarten, den Blumengarten, den Rasengarten und den Duftgarten. Die Auswahl der Pflanzen wurde an die spezifischen Wachstumsbedingungen angepasst, die mit einem mediterranen Klima vergleichbar sind. Für die kleinen Plätze hat der Brüsseler bildende Künstler Henri Jacobs acht Mosaike kreiert.

„Ein Highlight für die gesamte Holzbaubranche“

Da der Holzbau eine zentrale Rolle spielt, hat der Generalunternehmer CFE Bouw Vlaanderen Züblin Timber mit den Holzbauarbeiten beauftragt. Entscheidend dafür waren die Referenzen in hoher Sichtqualität, die das Unternehmen aus Aichach vorweisen konnte. „Gare Maritime ist ein Highlight für die gesamte Holzbaubranche, da es eine Herausforderung war, diese riesigen, geschichtsträchtigen Hallen in einem sehr engen Zeitplan mit hochmodernen und schönen Holzkonstruktionen zu füllen. Wir hatten die Gelegenheit, während der Konstruktions- und Montagephase mit unseren eigenen Ingenieurbüros sowie mit allen anderen Projektbeteiligten auf sehr konstruktive und angenehme Weise zusammenzuarbeiten. Vom ersten Kontakt bis zur ersten Platzierung der Holzelemente vor Ort dauerte es nur 14 Monate. Eine exakte BIM-Entwurfs- und -Planungsmethode ermöglichte eine problemlose Bewältigung der uns gestellten Aufgabe. In den ersten Monaten übernahm Züblin Timber in enger Zusammenarbeit mit den Statikern und Architekten die Rolle eines technischen Beraters, um in Abstimmung mit den anderen Gewerken den bestmöglichen Weg zur Realisierung zu finden“, erklärt International Sales Manager und Projektleiter Martin Schimpf.  So entstand am Ende der Optimierungsphase – also noch vor Beginn der Bauarbeiten – ein gemeinsames 3D-Modell, auf das jedes der zahlreichen beteiligten Gewerke mit seiner Werkstattplanung zugreifen konnte.  Dadurch wurde ein reibungsloser Baustellenablauf ohne Kollisionen möglich.

Mehr als 10.000 m³ Holz verbaut

Der leidenschaftliche Bauherr verlangte dem Holzbauunternehmen alles ab, da er viel Wert auf ein repräsentatives Erscheinungsbild legte. Neben makellosen Holzoberflächen waren eine verdeckte Verbindungstechnologie, eine Herstellung mit minimalen Maßtoleranzen und eine hohe Montagegenauigkeit Voraussetzung. „Auch der erhöhte Brandschutz wurde natürlich nicht außer Acht gelassen. Wir legten ein relativ wirtschaftliches Konzept vor, das wir dem Bauherrn schon im Vorfeld durch intensive Planung und Simulation näherbringen konnten“, ergänzt Schimpf. Die Bauaufgabe für die Holzbauer präsentierte sich in Form von zehn viergeschossigen Blöcken. Jeweils fünf davon sind in den äußeren Hallen aufgereiht. Zwei kleinere Baukörper sind stirnseitig am Ende des Komplexes eingebaut. Die mittlere Halle ist ausschließlich für den überdachten Boulevard reserviert. Grundprinzip der etwa 24 m hohen Blöcke mit einer Grundfläche von etwa 45 m x 45 m ist eine Skelettkonstruktion aus Brettschichtholz-Stützen und -Unterzügen in drei Ebenen. Zwischen die Unterzüge gehängte beziehungsweise aufgesetzte BSH-Rippen tragen im Verbund mit der darüber liegenden Brettsperrholz-Platte die Deckenlasten ab. Die Rippen wurden direkt auf der Baustelle mit den BSP-Platten zu großflächigen Deckenelementen verschraubt. Normalerweise kommt dafür Leim zum Einsatz. „Wir haben eine Schraubverbindung entworfen, da ein Transport der geleimten Elemente unwirtschaftlich gewesen wäre. Zudem war die Einrichtung einer Baustellenverleimung vor Ort nicht möglich. Auf diese Weise konnten wir das Transportvolumen deutlich reduzieren, den Bauablauf und die Kosten optimieren“, erklärt Schimpf. Pro Block beherbergt ein zentraler, bis unter das Hallendach reichender Kern aus BSP ein Treppenhaus samt den Technikräumen. Diese Versorgungstürme haben neben der Erschließung auch eine statische Funktion. Sie dienen der Aussteifung und tragen die horizontalen Lasten ab. Das Holzvolumen in Zahlen: 3030 m3 BSH, 6020 m3 BSP sowie 135 m3 Fichten-Furnierschichtholz. Die österreichische Hasslacher Gruppe lieferte dafür die montagefertigen BSH-Holzbauteile direkt auf die Baustelle nach Brüssel. „In unserem Werk in Aichach wurde das gesamte BSP sowie zirka 100 m3 Furnierschichtholz produziert“, weiß Züblin Timber-Projektleiter Schimpf.

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Pro Block beherbergt ein zentraler, bis unter das Hallendach reichender Kern aus BSP ein Treppenhaus samt Technikräumen. © Filip Dujardin

Baustellenlogistik war große Herausforderung

Aufgrund des großen Holzvolumens stellten die damit verbundene Logistik und Organisation vor Ort weitere Herausforderungen dar. „Die Mission bestand darin, Beton nur für das Fundament und die Bodenplatte zu verwenden. Wir haben rund 10.000 m3 Holz verbaut und jede Verbindung mechanisch hergestellt. So, dass wir sie theoretisch auch wieder demontieren können“, hält Extensa-Bauleiter De Neve fest. Eine Baustelleneinrichtung, wie man sie von anderen Holzbauprojekten kennt, war in Brüssel nicht durchführbar, zumal in den geschlossenen Hallen kein Lkw-Verkehr oder die Errichtung von üblichen Kränen möglich war. „Wir mussten stattdessen Hebebühnen oder kleine Autokräne verwenden. Zudem war die Lagerfläche für Material äußerst begrenzt“, berichtet Schimpf. Die Anlieferung der Holzbauelemente musste laut ihm ganz genau getaktet werden, um einen Stau mitten im Zentrum der belgischen Hauptstadt zu vermeiden. Hingegen sei die ganzjährig trockene Baustelle aufgrund der Hallen natürlich ein Traum gewesen.

Begonnen wurden die Arbeiten im dritten Quartal 2018. Schon im Winter 2019 konnten die ersten Büros im Gare Maritime ihre Pforten öffnen. Die eleganten Pavillons umfassen ein Erdgeschoss mit großen Eichenfenstern, zwei Stockwerke und eine Zwischenebene unterm Dachfirst. Zusätzliche Holztreppen, die die Fußgängerwege kreuzen, verbinden die einzelnen Pavillons miteinander. Durch das modulare System der Bauwerke eröffnen sich verschiedenste Nutzungsmöglichkeiten – von Büros, über Werkstätten und Geschäfte bis hin zu Schauräumen. Jeder Block oder Pavillon hat zudem seine eigene Adresse, wodurch verhindert wird, dass ein Besuch der riesigen Anlage zum unüberschaubaren Spießrutenlauf wird.

Solarpaneele und Spezialglas

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Das Dach wurde neu isoliert und die ausladenden Fenster an den Seiten und Enden der Haupthallen wurden modern verglast. © Filip Dujardin

Der Gare Maritime ist völlig energieneutral und frei von fossilen Brennstoffen. Das bestehende Bahnhofsgebäude bildet eine thermische Hülle, ohne zusätzliche Heizung und Kühlung in den Pavillons. Die Glasfassaden in der Picardstraat sind auf einer Fläche von 17.000 m2 mit Solarzellen ausgestattet. Auf allen Ebenen wurden weitreichende Nachhaltigkeitsmaßnahmen umgesetzt, wie die Nutzung geothermischer Energie und die Wiederverwendung von Regenwasser. Im Zuge der Renovierung wurde auch ein modernes Tageslichtmanagement installiert. Das Dach wurde neu isoliert und die riesigen Fenster an den Seiten und Enden der Haupthallen modern verglast. Dabei wurden rund 1633 m2 sensorgesteuerte, dimmbare Halio-Verglasungspaneele verwendet. Drei Vorteile der elektrochromen Sonnenschutzgläser waren nach Angaben des Bauherrn entscheidend: die einfache Bedienbarkeit, die Vermeidung störender Sonnenschutzelemente an der historischen Fassade sowie die Integration in das Konzept der Kreislaufwirtschaft.

Die Renovierung des Gare Maritime und die Entwicklungen am weitreichenden „Tour & Taxis“-Gelände ist laut Experten ein weiterer Schritt in der Belebung des unattraktiven Industrieareals mit seinem umliegenden Arbeiterviertel. Es könnte auch zum Mittelpunkt eines spannenden städtebaulichen Projektes werden, bei dem hoffentlich noch mehr Holz zum Einsatz kommt.

Projektdaten

Standort: Picardstraat, Tour & Taxis, Brüssel
Bauherrschaft: Extensa Group
Generalunternehmer: CFE Bouw Vlaanderen
Fertigstellung: 2020
Bauzeit inkl. Planungsphase: 2017 bis 2019
Architektur: Neutelings Riedijk Architects
Bauingenieure: Bureau Bouwtechniek
Statik und Bauphysik: Ney & Partners, Boydens Engineering
Holzbau: Züblin Timber
Systemlieferanten: Züblin Timber und Hasslacher Gruppe 
Materialverwendung: 3030 m3 BSH, 6020 m3 BSP, 135 m3 Fichten-Furnierschichtholz
Nutzfläche: 45.000 m2
Baukosten: 60 Mio. €; 12,1 Mio. € davon für den Holzbau