Zwischen den Scheunen streunen

Ein Artikel von Raphael Zeman | 27.04.2021 - 08:40
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Der Vorplatz erinnert an einen Dorfplatz. Hier wird zudem eine Linde gepflanzt, die den Bewohnern und Besuchern Schatten spenden soll. © Peter D. Hartung

Fellbach liegt mit seinen über 46.000 Einwohnern direkt an der Stadtgrenze Stuttgarts. 2009 wurde der Ortskern als Sanierungsgebiet ausgewiesen. „Das große Thema im Städtebau ist die Verdichtung, die Aktivierung der Stadt- beziehungsweise Ortskerne. Bei der Neuen Mitte Schmiden hat die Stadt selbst die Grundstücke gekauft, um für eine qualitätsvolle Verdichtung zu sorgen“, erklärt Manuel Schupp, Mitgründer des Stuttgarter Architekturbüros ORANGE BLU. Wie eine solch hochwertige Verdichtung aussehen kann, stellt das Scheunenviertel in Fellbach eindrücklich unter Beweis.

Selbst ist die Stadt

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© ORANGE BLU

„Wir haben eigens für dieses Projekt die Entwicklungsgesellschaft Fellbach gegründet. Private Investoren hätten eine siebenstellige Subvention gebraucht, um die Neue Mitte Schmiden umzusetzen. Wir wollten das vonseiten der Stadt selbst in die Hand nehmen“, erklärt Bürgermeisterin Beatrice Soltys. Doch nicht nur die Politik, auch die Bewohner selbst engagieren sich rege. „Im Rahmen der Projektentwicklung fand auch eine Bürgerbeteiligung statt“, erzählt Soltys. Eine Machbarkeitsstudie sah für den Bauplatz ursprünglich drei Gebäude vor. Den anschließenden Architekturwettbewerb konnte ORANGE BLU für sich entscheiden. Das Büro präsentierte seinen Entwurf aufgrund der Maßstäblichkeit und Verteilung am Grundstück mit vier statt drei Baukörpern und ermöglichte so eine öffentliche Durchwegung des Quartiers – also ein Streunen zwischen den Scheunen. Ursprünglich waren die Wohnbauten in mineralischer Massivbauweise mit Holzfassade geplant. Doch die Stadt fand die Idee des Scheunenviertels – und die damit verbundene Beziehung zur teils 800 Jahre alten Bestandsarchitektur – charmant. Zudem habe die Größe der Gebäude eine Umsetzung in Holz angeboten.

Bauordnungen sind Herausforderung

Für die Architekten war es zwar nicht der erste Holzbau, als Spezialisten mit dem nachhaltigen Baustoff würde man sich aber nicht bezeichnen. Die Konstruktionsweise im Nachhinein auf einen Holzbau umzustellen, schlägt sich natürlich auch in den Kosten nieder. „Ohne die ambitionierte Bauherrschaft wäre das Projekt so nicht zustande gekommen“, zeigt sich Schupp dankbar. Denn die Gebäudeklasse 4 stellt erhöhte Anforderungen an den Brand- beziehungsweise Rauchschutz – hier zog man holzbauerfahrene Fachplaner hinzu. „Durch die brandschutztechnische Beplankung muss die Technik bis auf die letzte Steckdose im Voraus geplant werden und deswegen viel Information bereits im Vorfeld feststehen“, so Schupp. Von der Politik wünschen sich die Architekten mehr Spielraum in den Bauordnungen. In diesen Tenor stimmt auch Bürgermeisterin Soltys mit ein: „Ein Holzbau ist in einer solchen Fertigung in dieser Gebäudeklasse anspruchsvoll in den technischen Details und damit finanziell aufwendiger. Das ist eine der Schwierigkeiten, mit der wir in Deutschland beim Wohnbau in Holz konfrontiert sind. Baden-Württemberg hat hier aber sicherlich noch die fortschrittlichste Bauordnung.“

Von langer Hand geplant – schnell gebaut

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© Peter D. Hartung

Das Team von ORANGE BLU hat zwar selbst eine Werkplanung durchgeführt, ausgeschrieben wurde aber dann mit der Werkplanung des Holzbauunternehmens Weizenegger, die teilweise noch Änderungen an der Statik vornahmen. Eine Zusammenarbeit in der Planungsphase wäre aus Zeit- und Kostengründen erwünscht gewesen, war aber durch die Formalität des Ausschreibungsverfahrens nicht möglich. Darauf folgte die Vorfertigung. „Von da an ging alles relativ flott. Ende Januar erteilten wir unsere ersten Freigaben, Ende April kam dann schon das erste Haus“, erinnert sich Schupp. Tiefgarage und Stiegenkerne wurden in Stahlbeton, die Außenwände der Untergeschosse in wasserundurchlässigem Beton ausgeführt. Die darauf errichteten tragenden Innenwände sowie Decken aus Brettsperrholz (BSP), die Außenwände inklusive der Fenster, die Fassade und die Gauben wurden allesamt im Werk vorgefertigt. So wurden die Holzhäuser im Rohbau inklusive Dachgeschoss und -deckung innerhalb von vier Wochen fertiggestellt. Eine Herausforderung war dabei auch die Logistik im urbanen Raum, zumal parallel zum Bauvorhaben eine der Zufahrtsstraßen saniert wurde. Dadurch war die Anlieferung nur von einer Seite möglich und es brauchte größere Kräne, die die 12 m breiten BSP-Decken 50 m weit zum Bauplatz hoben.

Architekten plädieren für Wissenstransfer

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Die hinterlüfteten Lärchenfassaden wurden mit einem Vorbewitterungsanstrich behandelt. Die Kombination von Holz und Metall an der Fassade nimmt Bezug auf die landwirtschaftliche Tradition der Stadt. © Peter D. Hartung

„Wenn man die Vorteile und Qualitäten des Baustoffs kennt, möchte man mehr damit umsetzen“, verrät der ORANGE BLU-Projektleiter Glenn Wiedemeyer-Worbes. Darum wünscht man sich für die Zukunft einen besseren Wissenstransfer zwischen ausführender und planender Seite sowie eine vermehrte Standardisierung der Bauteile. „Wir sind während der Planung auf den Bauteilkatalog dataholz.eu gestoßen. Das war durchaus hilfreich, aber in Deutschland muss man immer mit Zulassungen arbeiten. Was in Österreich schon selbstverständlich ist, ist hierzulande noch nicht der Standard – das macht es kompliziert“, so Schupp und Wiedemeyer-Worbes. Zweiterer wünscht sich darüber hinaus speziell für den deutschen Markt qualifizierte, bereits zugelassene Bauteilaufbauten: „Holzbau ist meist eine Art Schichtenbauweise, da wäre ein Bauteilkatalog hilfreich.“

Großes Interesse am Holzbau

In Fellbach jedenfalls findet man großen Gefallen am neuen Scheunenviertel. „Die Wohnbauten wurden von der Bevölkerung sehr gut angenommen, was sich auch in den zahlreichen Baustellenführungen widerspiegelt, die wir vor der Pandemie durchgeführt haben. Wir hatten selten ein Projekt, das von den Bürgern mit so viel Lob bedacht wurde“, erzählt Soltys. Die Neue Mitte Schmiden hat über die Grundstücksgrenzen hinaus neuen Wind gebracht. So wurde der umgebende urbane Raum mitentwickelt und neu gestaltet. „Der Stadtkern hat dadurch eine Aufwertung erfahren, mehrere Funktionen laufen hier zusammen. Es gibt 29 Wohnungen, ein Bistro, eine Arztpraxis und sowohl öffentliche als auch private Stellplätze. Das Quartier kann nun durchquert werden – das war vorher nicht möglich“, so die Bürgermeisterin. Die Stadt will zukünftig mehr in Holz bauen, aber die Ausführung reiner Holzbauten werde in Deutschland zurzeit noch schwer gemacht.

Und auch bei den Architekten hat man Gefallen gefunden. „Wir werden uns zukünftig selbstverständlich mehr dem Holzbau widmen. Das ist auch der Zeit – Stichwort Klimakrise – geschuldet. Den Aufschwung der nachhaltigen Bauweise merken wir am Markt und bei anderen Wettbewerben, wo wir proaktiv einen Holzbau vorgeschlagen haben und vonseiten der Bauherren sehr positiv reagiert wurde“, resümiert Schupp.

Projektdaten

Standort: Fellbach, DE
Bauherrschaft: Entwicklungsgesellschaft Fellbach mbH & Co. KG
Fertigstellung: September 2020
Bauzeit inkl. Planungsphase: 2016 – 2020
Architektur: ORANGE BLU building solutions GmbH & Co. KG
Statik: Werner & Balci GmbH
Holzbau und Systemlieferant: WEIZENEGGER Objektbau GmbH
Holzmenge: ca. 900 m³
Nutzfläche: 2700 m² (inklusive Wohnfläche, Arztpraxis und Bistro)