Holz baut soziale Brücken

Ein Artikel von Birgit Gruber | 02.08.2021 - 08:21

Die Folsterhöhe im Stadtteil Alt-Saarbrücken galt in den 1960er-Jahren als Vorzeigewohnsiedlung. Gebaut wurde die „Folschder“, wie sie Einheimische gerne bezeichnen, von 1962 bis 1965 als Quartier des sozialen Wohnungsbaus insbesondere für junge Familien. In der typischen Berliner Plattenbauweise errichtet, war sie seinerzeit hochmodern und wegweisend auf dem Saarbrücker Wohnungsmarkt. Mit ihren 972 Wohnungen ist sie die größte zusammenhängende Wohnanlage der Siedlungsgesellschaft. Die Hochhäuser zierten damals sogar Postkarten, die aus der Hauptstadt des Saarlandes in alle Welt verschickt wurden. Doch mit der Zeit geriet das Quartier in Verruf, die Hochhäuser verfielen zusehends und die Gegend wandelte sich zum viel zitierten Problemviertel. Seit einigen Jahren bemüht sich die Saarbrücker gemeinnützige Siedlungsgesellschaft, die Häuser energetisch zu sanieren und optisch aufzuwerten. 2018 war die Instandhaltung des ersten 15-Geschossers beendet. Die Maßnahme war sowohl baulich als auch logistisch eine Herausforderung, denn die Arbeiten erfolgen im teilbewohnten Zustand in drei Bauabschnitten. Doch der schlechte Ruf blieb. Erst 2019 geriet die Gegend erneut ins Rampenlicht. Eine TV-Reportage des SPIEGEL über die Lebensverhältnisse in Saarbrücken unter dem Titel „Saarbrooklyn: Der Randbezirk der Gesellschaft” machte damals die Runde und zeichnete für den Außenbetrachter ein negatives Bild von der „Folschder“. Dagegen wehrten sich die dort ansässigen Bewohner und ließen sich für YouTube-Videos interviewen, die der überspitzen Reportage entgegentreten und eher die Realität abbilden sollen.

Moderne und schnelle Modulbauweise

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Der Holzmodulbau wurde in eine schwierige Gegend gesetzt: Auf der Saarbrückener Folsterhöhe treffen Plattenbauten aus den 1960er Jahren auf soziale Probleme. Doch das Material Holz überzeugt auf ganzer Linie. © Thomas Mayer

In diesen speziellen städtebaulichen Kontext sollte genau zu dieser Zeit ein neuer Kindergarten errichtet werden. In einem der YouTube-Videos ist noch die Baustelle zu sehen, im September 2020 konnte bereits die Eröffnung gefeiert werden. „Unter den strengen Coronamaßnahmen allerdings nicht so, wie wir uns das alle vorgestellt hätten“, merkt Architekt Andreas Krawczyk an. Gemeinsam mit seiner Partnerin Nicole Kerstin Berganski führt er das Büro NKBAK in Frankfurt und zeichnete für den Neubau der Kindertagesstätte (kurz: Kita) mit der Adresse Hirtenwies 70 verantwortlich. „Die Anzahl der Kinder in Saarbrücken wächst, daher sind schnelle Lösungen für den Kita-Ausbau in der Landeshauptstadt gefragt. Dank einer modernen und schnellen Modulbauweise entstehen auf der Folsterhöhe 100 Kita- und 22 Krippenplätze“, erklärte Oberbürgermeisterin Charlotte Britz beim Spatenstich. Als Bauherr des zweigeschossigen Holzbaus trat der Gebäudemanagementbetrieb der Landeshauptstadt Saarbrücken (GMS) auf. Dass sich die Stadtverantwortlichen schlussendlich für den nachhaltigen Baustoff entschieden haben, ist den Architekten geschuldet. Als Referenz legten Krawczyk und Berganski die Erweiterung der europäischen Schule 2015 in Frankfurt vor. Damals das erste Projekt deutschlandweit, bei dem mit Holzmodulen im großen Stil gearbeitet wurde. „Der Bauherr hatte zunächst einen klassischen Containerkindergarten vor Augen. Unsere Präsentation im Rahmen einer Ausschreibung mit Raummodulen aus Holz hat aber ganz schnell überzeugt“, freut sich Krawczyk.

Material Holz gibt Feedback

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Holz ist der ideale Baustoff für Kinder. Das Material ist warm, gibt Feedback und hat eine tolle Haptik. Im Kindergarten dürfen alle Wände angegriffen und bespielt werden. ©  Thomas Mayer

Das Ziel der Planer: einen Ort zu schaffen, an dem sich jeder willkommen fühlen kann. Ein Ort, der Platz für verschiedenste Erfahrungen ermöglicht, an dem gelacht, gesungen und geträumt werden kann. Ein Gebäude für Kinder zu planen, sei laut Architekten immer eine Herausforderung, da man sich mit den eigentlichen Nutzern während der Planungs- und Bauzeit nicht abstimmen kann. „Da heißt es dann also, sich wieder in die Lage eines Kindes hineinzuversetzen und dessen Perspektive bei der Gestaltung der Räume einzunehmen. Das ist sehr spannend, weil Kinder selbstverständlich keine Gedanken an DIN-Normen, Verwaltungsvorschriften und ähnliches verschwenden und wir als Architekten gefordert sind, diese Gedanken nicht in den Vordergrund treten zu lassen“, weiß der Planer. Zwar grundsätzlich undogmatisch bei der Materialwahl, hält Krawczyk jedoch ganz klar fest: „Das Beste ist doch, wenn Kinder sich frei und ohne Grenzen entwickeln können. Der Baustoff Holz bietet dafür wahnsinnig gute, vielleicht sogar die außergewöhnlichsten Möglichkeiten. Man darf das Material anmalen, es berühren, Bilder an die Wand hängen oder sogar dagegentreten, wenn man einmal wütend ist. Holz verzeiht alles, macht alles mit und gewinnt dadurch eigentlich noch an Charakter. Holz als Material gibt Feedback und hat eine völlig andere Haptik als eine Sichtbeton- oder weiße Gipskartonwand, die einfach nicht antwortet. Genau das ist das Schöne an Holz. Kinder können damit Erfahrungen machen, die nicht abweisend, sondern ihnen eher zugeneigt sind.“

Ein positives Zeichen für die Zukunft

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Die 41 Holzmodule wurden inklusive Deckenheizkörpern, Beleuchtung und aller Anschlüsse just in time per Lkw aus Vorarlberg auf die Baustelle geliefert. © Thomas Mayer

Für das städtebauliche und soziale Umfeld des Kindergartens spielte die Materialwahl ebenfalls eine entscheidende Rolle. Denn der Wucht aus 15-geschossigen, grauen und tristen Plattenbauten konnte man nur mit einem sanften und warmen Holzgebäude entgegentreten. Allerdings musste sich das neue Ensemble in die vorhandene Struktur einbinden, ohne gegen sie zu arbeiten. „Der neue Kindergarten soll ein Zeichen für die Zukunft setzen und gleichzeitig robust genug sein, um mit der Umgebung zu interagieren. Daher unsere bewusste Wahl von neuen, natürlichen Materialien, das Spiel von offenen und geschlossenen Fassaden und die Positionierung am Rande der Siedlung im Übergang zur Natur“, weiß der Architekt. Auch Krawczyk wurde während der Planungsphase mehrmals auf bestehende Probleme wie Vandalismus oder Graffitisprayer im Viertel hingewiesen. Doch allen Bewohnern, denen er begegnet ist, seien freundlich und interessiert gewesen. „Als wir gesagt haben, wir bauen einen Kindergarten, waren alle recht glücklich. Die Menschen fühlen sich in dem Moment ernst genommen und sehen: da wird etwas getan. Das Material Holz hat sicherlich viel Positivität in dieses Umfeld hineingebracht, als kleiner Baustein in dieser großen Siedlung“, ist sich Krawczyk sicher. Die Architekten haben sich deshalb auch ganz bewusst gegen eine Umzäunung des ganzen Kita-Areals entschieden. Die geschlossene Gebäuderückseite mit Klappläden vor den Fenstern und zwei Türen als Notausgänge für die Stiegenhäuser, die im geschlossenen Zustand mit der Lärchenfassade eins werden, schafft eine eigenständige Grundstücksgrenze. „Dadurch können die Anrainer das Material anfassen, es spüren und mit dem Holz in Kontakt treten. Ich bin überzeugt, dass diese Art der Öffnung Vandalen abhält. Meiner Meinung nach gibt es ja auch keinen Grund zu Aggressionen gegen dieses schöne, warme Baumaterial“, so der Architekt.

Holzmodule made in Vorarlberg

Für den Bau der 41 Holzmodule in Fichte stellte die Stadt NKBAK Architekten als Generalunternehmer Kaufmann Bausysteme aus Reuthe zur Seite. Die Projektpartner kannten sich bereits durch die Erweiterung der europäischen Schule in Frankfurt. Krawczyk weiß seither das professionelle Auftreten des stetig wachsenden Holzbaubetriebes zu schätzen. „Sämtliche Fragen, auch wenn sie nicht so holzbauaffin sind, werden stets professionell beantwortet. Diese Resonanz ist für die Planungs- und Bauphase entscheidend. Eine bessere Zusammenarbeit könnte ich mir nicht vorstellen“, so der Architekt. Auf einer Stahlbeton-Bodenplatte ist ausschließlich Holz als konstruktives und gestalterisches Material verwendet worden. Das prägt die Atmosphäre des Bauwerks sowohl in den Innenräumen als auch in der äußeren Erscheinung. Die Module wurden inklusive Deckenheizkörpern, Beleuchtung und aller Anschlüsse just in time per Lkw aus Vorarlberg auf die Baustelle geliefert. Der Aufbau nahm nur wenige Tage in Anspruch. Das Besondere bei diesem Projekt: „Der Aufzugschacht aus Brettsperrholz wurde als zweigeschossiges Modul geliefert“, weiß Kaufmann-Projektleiter Hendrik Reichelt. Beim Innenausbau hat man bewusst auf Vorsatzschalen verzichtet, damit die Kinder pures Fichtenholz anfassen können. „Bei meinem ersten Lokalaugenschein mit dem Kindergartenleiter hatte ich den Eindruck, dass er unser Konzept total gut verstanden und umgesetzt hat. Er hat alle Nischen genutzt und die Wände bespielt, sodass sich die kleinen Individuen in ihren Räumen frei entfalten können“, freut sich Krawczyk.

Der Trick mit dem Knick

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Der Grundriss des Gebäudes verlässt das orthogonale Raster. Durch eine Drehung um 15 Grad und dem leichten Versatz der Module werden die Gruppenräume in der Gestalt lesbar und öffnen sich mit spielerischer Eleganz zum Außenraum © Thomas Mayer

Im zweistöckigen Kinderhaus befinden sich zur geschlossenen Seite und hin zur Siedlung die Mitarbeiter- und Elterngesprächsräume, Lagerräume und ein Kinderwagenabstellraum. Zur offenen Seite hin Richtung Park sind die Gruppenräume mit großzügigen Fensterfronten angesiedelt. Betreten wird die Kita über die Seite. Im Erdgeschoss sind ein Bewegungsraum für Feiern und Sommerfeste sowie der Speisesaal untergebracht. Zusätzlich sind zwei Räume inklusive Schlafplätzen für die Kleinsten unter drei Jahren vorgesehen. Im Obergeschoss liegen die vier Gruppenräume für die über Dreijährigen. Ein Raster aus Lärchenholzlatten, ähnlich eines Korbgeflechts, vor einem Teil der großen Glasflächen dient als Absturzsicherung für den Lüftungsflügel und gleichzeitig als Sichtschutz.

„Besonders ist vielleicht noch anzumerken, dass der Grundriss trotz der Strenge der Module das orthogonale Raster verlässt. Durch eine Drehung um 15 Grad und dem leichten Versatz der Module werden die Gruppenräume in der Gestalt lesbar und öffnen sich mit spielerischer Eleganz zum Außenraum“, erklärt Krawczyk die spannende Architektursprache.

Projektdaten

Standort: Saarbrücken
Bauherrschaft: Gebäudemanagementbetrieb der Landeshauptstadt Saarbrücken (GMS)
Baubeginn: 2019
Fertigstellung: September 2020
Architektur: NKBAK Architekten
Statik: Merz Kley Partner
Brandschutz: Wagner Zeitter Bauingenieure
Holzbau: Kaufmann Bausysteme
Holzmenge: 1000 m³
Bruttogeschossfläche: 1330 m²