Die Schönheit in der Einfachheit

Ein Artikel von Raphael Zeman | 26.01.2022 - 09:32
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Brettschichtholz-Träger mit den Maßen 115 x 22 cm bilden gemeinsam mit der auskragenden Gitterkonstruktion einen fast 90 m spannenden Holzrahmen. Eine komplexe Struktur aus Stahlseilen mindert die auf die BSH-Bögen einwirkende Schubkraft. © SS

12.000 Sitzplätze aus japanischer Zeder bietet das Ariake Gymnastics Centre im Stadtteil Ariake der Präfektur Tokio. Während den Olympischen und Paralympischen Spielen 2020 – die pandemiebedingt 2021 stattfanden – wurde es als temporäre Sporteinrichtung genutzt und beherbergte die Disziplinen Geräteturnen, rhythmische Sportgymnastik, Trampolinturnen und Goalball. Danach wurden die Tribünen entfernt und das Bauwerk mit der imposanten Dachkonstruktion aus Brettschichtholz (BSH) seiner eigentlichen Nutzung als Ausstellungshalle zugeführt.

Holz aus zweierlei Gründen

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© Ken’ichi Suzuki

Für die Planung zeichnet Nikken Sekkei verantwortlich – mit seiner Gründung im Jahr 1900 wohl Japans ältestes Architekturbüro. Nikken Sekkei verfügt über mehr als 2900 Mitarbeiter und hat bereits einiges an Holzbauerfahrung. Auch die Tragwerksplanung wird im eigenen Unternehmen vorgenommen, jedoch konsultiert man üblicherweise bereits im Anfangsstadium eines Projekts spezialisierte Holzlieferanten bzw. Hersteller, verraten die Architekten. Im Fall des Ariake Gymnastics Centre waren dies das ausführende Unternehmen Shimizu und der Ingenieur Masao Saito als Berater. Warum das Gebäude in Holz errichtet wurde? „Einerseits wollten wir ein umweltfreundliches Äquivalent zum Stadion aus Beton und Stahl, das Tokio für die Olympischen und Paralympischen Spiele 1964 errichtete, bauen. Andererseits ist das Gebäude eine Hommage an seinen Errichtungsort, denn hier lag früher ein Teich zur Lagerung von Holz. Der Baustoff eignet sich zudem hervorragend für das Bauen auf weichen Böden.“

„Schiff in der Bucht“

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© SS

Der Genese des Orts entstammt auch das architektonische Konzept: ein Holzschiff bzw. eine Holzschale, die in der Bucht liegt. Doch die rund 2300 m³ japanische Lärche treiben dort nicht wahllos und unstrukturiert vor sich hin. Auf 115 mal 22 cm messenden BSH-Trägern liegt eine auskragende Gitterkonstruktion. Auf diesem fast 90 m spannenden Holzrahmen ruht eine Dachhaut aus gewellten Stahlprofilen. Die Architekten über die Konstruktion: „Um das Profil der BSH-Bögen möglichst klein halten zu können und die bei niedrigen Holzbogenträgern ohne Stahlrahmen wirkende Schubkraft aufzuheben, haben wir eine komplexe Struktur mit Stahlseilen gewählt.“ So gelang auch in der Außenansicht des an der höchsten Stelle rund 30 m hohen Gebäudes ein stromlinienförmiges Profil, das sich in die umliegende Bucht einfügt.

Heimische Holzarten in allen Maßstäben

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Zwei Reihen von Stützen tragen die auskragende Dachkonstruktion. So konnte ein wettergeschützter Rundweg im Außenraum eingerichtet werden. © Ken’ichi Suzuki

Die erwähnte Außenansicht setzt sich aus einem konvexen und einem konkaven Bogen zusammen und spiegelt die inneren Strukturen – die Tribünen mit Sitzflächen aus japanischer Zeder sowie die Dachstruktur aus japanischer Lärche – wider. Holz kommt ebenfalls als Fassadenschalung in akustischer und dämmender Funktion aus japanischer Zeder und in Form von Trittstufen aus japanischer Zypresse zum Einsatz. Der Belag für den außenliegenden Rundweg besteht aus Holzschnitzeln und trägt so durch Speicherung und Durchlässigkeit zur Entwässerung bei. Die über diesen Rundweg auskragende Dachkonstruktion wird durch zwei Reihen von Stahlstützen, davon eine vertikal und eine diagonal ausgerichtet, getragen. Dahinter verbirgt sich eine weitere Referenz, nämlich an den für die japanische Architektur typischen terrassenartigen Außenraum namens „engawa“. Mit dieser Verlagerung der Erschließung und damit der Treff- und Sammelpunkte nach außen wollen die Architekten zudem die sonst so undurchdringbare Erscheinung von Sportstätten dieser Größe umgehen. „Über das gesamte Projekt hinweg wurde umsichtig abgewogen, welche Holzarten in welcher Verwendung und Konstruktionsweise am besten eingesetzt werden können. So fand das Material in jeder Maßstäblichkeit seinen ganz eigenen sinnvollen Platz im Gebäude – so etwas ist nur bei einem Bauwerk dieser Größe möglich“, erklärt Nikken Sekkei die Herangehensweise.

Zu guter Letzt erläutert das Büro auch noch seine Holzbauphilosophie: „In Japan ist es eine Tradition, die Schönheit in der Natürlichkeit eines Materials zu betrachten. Funktion, Struktur und Raum sind eng verwoben, um Schönheit und Fülle durch Einfachheit zu erzeugen – das ist die Essenz der traditionellen Holzbauarchitektur Japans. Wir hoffen, dass Menschen aus aller Welt dies in unserem Bauwerk wahrnehmen können.“ Bei den Olympischen und Paralympischen Spielen 2020 war das leider nicht möglich, da die Spiele ohne Zuschauer ausgetragen wurden. Nun kann das Ariake Gymnastics Centre in seiner Funktion als Ausstellungshalle besucht werden – das Raumgefühl könnte jedoch etwas an Wärme verloren haben, denn die Tribünen samt Sitzflächen aus Holz wurden zur Umnutzung entfernt.

Projektdaten

Standort: Tokio, Japan
Fertigstellung: 2019
Bauzeit: November 2017 bis Oktober 2019
Bauherr: Organisationskomitee der Olympischen und Paralympischen Spiele 2020 in Tokio
Architektur: Nikken Sekkei Ltd.
Holzbau: Shimizu Corporation
Holzmenge Dachkonstruktion: 2300 m³