Holzschiff ahoi!

Ein Artikel von Birgit Gruber | 05.05.2022 - 09:07
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© Francisco Nogueira

Vor 400 Jahren erlebten die Niederlande ein „goldenes Zeitalter“. Die Seefahrt machte die Menschen im Land reich, denn die Niederländer bereisten mit ihren großen Segelschiffen die Weltmeere. Aus fernen Ländern brachten sie kostbare Gewürze und teure Stoffe mit, die man in Europa bis dahin gar nicht kannte. All das fasziniert die Menschen bis heute. Doch die Niederlande waren nicht nur eine alte Seefahrernation. Die Niederländer sind auch heute noch im Landesinneren viel auf dem Wasser unterwegs. Ob Hausboot, Segelboot, umgebaute Schlepper: die Grachten der Hauptstadt Amsterdam sind voll damit. Hinzu kommt seit 2019 ein Holzschiff an Land, entworfen vom örtlichen Architektur- und Designbüro GG-loop. Das Zweifamilienhaus-Projekt „Freebooter“ (zu Deutsch: Freibeuter) huldigt nicht nur namentlich der maritimen Vergangenheit der einzigartigen Metropole. Auch optisch erinnert das Wohngebäude im Zentrum der Insel Zeeburgereiland an ein Boot, das gerade in See sticht. Architekt, Designer und GG-loop-Gründer Giacomo Garziano wollte mit seinem Projekt nicht nur den Pioniercharakter der Nation würdigen, sondern auch den Geist der Freibeuter in die Wohnungen bringen, indem er ein hoch qualifiziertes Team von Handwerkern und Schreinern zusammenstellte, das ihm bei der Verwirklichung seiner Vision zur Seite stand. „Die Niederländer waren schon immer Pioniere und Innovatoren und haben einen unglaublichen Drang, etwas zu erreichen. Diese oberste Prämisse galt auch für das Team, das dieses Haus in guter Zusammenarbeit gebaut hat“, freut sich Garziano.

Wie ein Schiffsrumpf aus Holz

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© Francisco Nogueira

Viel Wert legte das Designteam dabei auf die verwendeten Materialien. Die zwei Wohneinheiten zu je 120 m2 bestehen aus einer Hybridstruktur aus Brettsperrholz (BSP) und Stahl und wurden vor Ort vorgefertigt, was eine außergewöhnlich kurze Bauzeit von nur drei Wochen für die vier Stockwerke ermöglichte. Die Fertigstellung des Ensembles dauerte gerade einmal sechs Monate. „Der Grundriss der einzelnen Wohnungen ist organisch und fließend, mit stufenförmig ansteigenden Räumen, die den Bewohner einhüllen und sich entfalten, wenn er sich durch sie bewegt“, erklärt der Architekt. So gehen Form und Funktion der Häuser eine angenehme Harmonie ein. Das Innere wirkt kompakt und dynamisch zugleich, vor allem auch durch die Kombination von diversen Fensterelementen, Holzinterieurs und hochwertigen, geschichteten Holzoberflächen. Rotzeder (Fassade) und Kiefer sind die dominierenden Holzarten.

Die Nutzung des natürlichen Lichts

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© Michael Sieber

Jede Wohnung erstreckt sich über zwei Etagen. Im Erdgeschoss des ersten Komplexes gibt es einen offenen Wohnbereich mit Platz zum Sitzen und Essen, eine geschlossene Küche auf der Vorderseite und einen Garten auf der Rückseite. Im Obergeschoss befinden sich ein Arbeitszimmer und zwei Schlafzimmer, die sich um ein gemeinsames Bad gruppieren. In der oberen Wohnung im dritten Stock befindet sich die Küche in der Mitte, mit einem offenen Wohn- und Essbereich auf der einen und einem Arbeitszimmer auf der anderen Seite. Im vierten Obergeschoss verbindet ein geschwungener Korridor das Familienbad mit einem Einzel- und einem Doppelzimmer. Letzteres öffnet sich zu einer großen, überdachten Terrasse, die von den Zedernholzlamellen abgeschirmt wird. Das System der Balkone und Terrassen schafft Kontinuität zwischen den Innen- und Außenräumen, vergrößert diese und verbindet die Bewohner mit der Umgebung, die vom naheliegenden Wasser dominiert wird. „Unsere Designästhetik ist zwar extravagant, ohne jedoch invasiv, visionär oder futuristisch zu wirken“, weiß Garziano. Der offene Grundriss bietet zudem maximale Flexibilität. Mit seinem auffälligen Äußeren ist das Gebäude zu einem zentralen Punkt des Viertels geworden. Die Holzlamellen der Fassade sind ein Blickfang für die Nachbarschaft. GG-loop führte das ganze Jahr über eine Studie über die Lichtverhältnisse durch, um die optimale Form und Positionierung der Lamellen zu entwickeln. Diese parametrische Fassade ermöglicht eine optimale Verteilung des Lichts und gleichzeitig einen angemessenen Grad an Privatsphäre.

Forschungsergebnisse pro Holzbau

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© Francisco Nogueira

Das Projekt ist das Ergebnis eingehender Forschung im Bereich des Holzbaus: Das Hybridsystem aus einer BSP- und Stahlkonstruktion wurde während des gesamten Entwurfsprozesses entwickelt, um den Innenraum und die Bauzeit zu optimieren. „In einer durchgeführten Studie wurden zudem Vergleichstests zwischen einer Beton- und Holzstruktur durchgeführt. Letztere hat sich dank ihrer strukturellen Leistung, der Optimierung der Bauzeit und ihrer CO2-Bilanz als die qualitativ beste Lösung erwiesen. Die Auswirkungen auf die Kosten einer effizienten BSP-Struktur betragen weniger als 10 % im Vergleich zu einer Konstruktionslösung aus Beton“, weiß der Planer. Der Energieverbrauch des Gebäudes liegt nahezu bei null. „Dies ist das Ergebnis einer Kombination aus 24 Sonnenkollektoren auf dem Dach, einer leistungsstarken Wandisolierung und Glaswänden in Verbindung mit einer Niedertemperatur-Fußbodenheizung und einem mechanischen und natürlichen Lüftungssystem. 98 % des verwendeten Holzes sind PEFC-zertifiziert. Mit 122,5 m3 Holz speichert das Gebäude fast 80 t CO2 und gleicht damit die Abgase eines Mittelklassewagens über 240.000 km Wegstrecke oder den Energieverbrauch von 87 Haushalten in einem Jahr aus“, führt Garziano weiter aus.

Triumph des biophilen Designs

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© Francisco Nogueira

Das Amsterdamer Architekturbüro GG-loop wurde 2014 von Garziano, Absolvent der Facolta di Architettura di Firenze, gegründet und geht der Philosophie nach, dass Design nicht einfach nur funktionale Objekte und Räume erschaffen sollte. Stattdessen soll jedes neue Bauwerk eine Geschichte erzählen und seinen Nutzer auf eine Reise mitnehmen. Die Projektvisionen des Teams sind immer zukunftsorientiert, organisch und raffiniert. „Wir stellten zu jedem Zeitpunkt des Designprozesses den Endnutzer in den Mittelpunkt“, erklärt Garziano und ergänzt: „Haben Sie sich jemals gefragt, wie Design aus der Perspektive eines Hauseigentümers aussieht? Diese Erfahrungen und das Wohlbefinden des Bewohners dürfen wir beim Gestaltungsprozess nie aus den Augen verlieren.“ Die Menschen seien nämlich auf eine tiefe und grundlegende Weise Teil der Natur. In unserem modernen Leben hätten wir diese Verbindung leider verloren. „Unser Studio entwirft Häuser und Städte, die sowohl die Bewohner als auch die Umwelt respektieren und beides wieder miteinander verbindet. Freebooter ist eine Antwort darauf. Ich sehe biophiles Design als Schlüssel zu wirklich innovativem Design, das die technischen Aspekte umweltbewussten Bauens mit der qualitativen, gelebten Erfahrung eines organischen und natürlichen Raums in Einklang bringt“, sagt Garziano.

Der Begriff „Biophilie“ leitet sich vom griechischen „bio(s)“ (Leben) und „philia” (Liebe) ab und bedeutet Liebe zum Leben. Populär gemacht hat ihn der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson, der in den 1980er-Jahren auf die essenzielle Bedeutung der Natur für das Wohlbefinden der Menschen hingewiesen hat. Aus dieser schlichten Weisheit ist inzwischen ein weltweiter Trend geworden. Unter dem Schlagwort „biophiles Design“ haben es sich Architekten und Designer auf die Fahnen geschrieben, gesunde Lebensräume im Einklang mit der Natur zum Wohnen und Arbeiten zu schaffen. Biophiles Design nutzt diese Ideen als Prinzipien, um den eigenen Lebensraum so zu gestalten, dass der Kontakt zwischen Mensch und Natur in einer städtischen Umgebung wieder hergestellt wird. „Seit etwa 15 Jahren richtet die grüne Bewegung in der Architektur ihren Fokus vornehmlich auf die Planung von Gebäuden, die mit der Umwelt im Einklang stehen und zu ihrem Schutz beitragen. Wenn es nach den Fürsprechern einer biophilen Gebäudeplanung geht, werden die nächsten 15 Jahre im Zeichen einer noch grüneren Architektur stehen, deren Entwürfe die Umwelt nachahmen und ins Gebäudeinnere holen“, weiß Garziano. GG-loop hat dafür bereits ein modulares Holzbausystem namens „Mitosis“ vorgestellt. Dabei überzeugt der Grundgedanke des Konzepts: nachhaltiger, energieeffizienter Städtebau, der die Verbindung von Mensch und Natur stärkt.

Mitosis: Die Städte der Zukunft

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© GG-loop / Hexapixel

Mit Mitosis (holzbau austria berichtete) wollen die Niederländer ihre Vision von regenerativem, gemeinschaftlichem Wohnen auf allen Skalen aufzeigen. Dabei handelt es sich um ein parametrisch berechnetes, modulares Bausystem, das biophilen und nutzungsorientierten Designprinzipien folgt und auf den jeweiligen Standort und seine Bewohner zugeschnitten ist.

Mit dem Bausystem werden urbane Cluster durch den Einsatz von vorgefertigten und biobasierten Holzmodulen erzeugt, die kosteneffizient und vielseitig anwendbar sind. Die Bebauung bezeichnen die Architekten als energiepositiv, das heißt, sie erzeugt mehr Energie, als sie verbraucht und basiert auf Kreislaufwirtschaft. Da Biodiversität im städtischen Umfeld nicht nur eine positive Auswirkung auf die Lebensqualität, sondern auch auf das Umweltbewusstsein der Bewohner hat, sollen die Flora und Fauna, welche dem jeweiligen Standort entsprechen, in die Gebäude integriert werden. Zudem ist Mitosis so entworfen, dass sich die Bebauung im Einklang mit ihren Bewohnern und ihrer Umgebung mitentwickelt und dabei neue Ökosysteme entstehen bzw. gefördert werden. Integraler Bestandteil des Systems ist, dass die Module der Form des Parallelogramms bzw. Rhomboids folgen. Dadurch entstehen beim Übereinanderstapeln großflächige Freiräume – jede Wohneinheit soll über mindestens eine Terrasse verfügen. Zudem schafft die organische und flexible Konstruktionsweise bzw. Anordnung Platz für urbane Farmen, Gewächshäuser und Grünkorridore. Mitosis ist so konzipiert, dass man damit alle Skalen und Typologien des Städtebaus abdecken könnte. Man darf gespannt sein.

Projektdaten

Standort: Amsterdam
Bauherr: privat
Fertigstellung: 2019
Architektur: GG-loop
Generalunternehmer: Kolthof BV
Tragwerksplanung: Pieters Bouwtechniek
Holzbau: Binderholz; Ekoflin
Verbaute Holzmenge: 122,5 m³,
Bruttogeschossfläche: 257 m2