Der Geschichtenerzähler

Ein Artikel von Birgit Gruber | 17.05.2022 - 08:27

Eine möglichst umweltschonende Stadt sein – das steht in Amsterdam ganz oben auf der politischen Agenda. Die niederländische Metropole geht intelligent und effizient mit Raum, Energie und Grundstoffen um. Ein Schwerpunkt in der Politik der Stadtverwaltung ist, die Stadt so kompakt wie nur irgendwie möglich zu erhalten. Außerdem verfolgt die Bürgermeisterin der Partei GroenLinks eine rigide Nachhaltigkeitsagenda, bei der das Bauen mit Holz und biobasierten Rohstoffen im Mittelpunkt steht. „Die Strategie geht dem großen Ziel nach, bis zum Jahr 2025 20 % des Wohnneubaus in Holz zu errichten. Ein ambitioniertes Ziel, denn der Output soll damit in den nächsten drei Jahren verzehnfacht werden“, weiß Olaf Gipser, der sein Architekturbüro seit 2005 auf Steigereiland, der ersten der IJburg-Inseln, führt. Über die A10 gelangt man von dort nach Amsterdam Noord, wo das ehemalige Industrieviertel Buiksloterham liegt. Die Gegend wurde lange Zeit durch den Schiffbau und andere Produktionsstätten dominiert. Heute ist sie ein pulsierendes Zentrum von Kultur und Nachtleben, direkt am Wasser. Die NDSM-Werft beherbergt Künstlerkollektive und hippe Bars, in den IJ-Hallen gibt es einen riesigen Flohmarkt mit Secondhandmode, Upcycling-Schmuck und Antiquitäten.

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© Heutnik Group

In Buiksloterham wachsen aber auch zahlreiche Projekte in die Höhe, die Vorbilder für nachhaltige Architektur und Stadtentwicklung sind. So entstehen etwa kollektiv entwickelte Nullenergie-Wohnviertel. „Außerdem experimentieren die Amsterdamer auf der Suche nach neuen Nachhaltigkeitsansätzen mit Konzepten zur zirkulären Stadt. Buiksloterham will das erste zirkuläre Viertel Amsterdams werden, bei dem alle Abfall- und Energieströme geschlossen sind. Die Kommune stellt dafür viele Grundstücke zur Verfügung, die alle nachhaltig entwickelt werden sollen. Stories ist Teil eines Grundstücks, auf welchem zeitgleich sechs Baugruppenprojekte realisiert wurden“, weiß Gipser. Er selbst ist Teil dieser Erfolgsgeschichte und plante für die Baugruppe BSH20A das Holzhybrid-Wohngebäude „Stories“, das im März 2021 nach intensiven Entscheidungsfindungsprozessen und einer zweieinhalbjährigen Bauzeit fertiggestellt werden konnte.

Lernprozess mit Spannungsfeldern

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Olaf Gipser Architects © Luuk Kramer fotografie

„Stories war unser erstes, großes Holzbauvorhaben. Ich spreche hier vom Jahr 2016, als feststand, dass unsere Bewerbung für das Grundstück erfolgreich war. Mit Baugruppenprojekten hatten wir zu diesem Zeitpunkt bereits Erfahrung. Als noch junges Architekturbüro waren wir sehr ambitioniert und strebten nach drei Ideen: Das Gebäude sollte langfristig funktionsneutral sein, biobasiert und zirkulär gebaut werden und nicht nur Menschen, sondern auch Tieren und Pflanzen als Lebensraum dienen. Biodiversität war diesbezüglich ein wichtiges Schlagwort. In Zeiten von knappem Lebensraum ohnehin bedeutender, denn je“, erzählt Gipser. Nach dem erfolgreichen, institutionellen Weg, der auf einem „plan of approach“ gründete, mussten der Architekt und sein Team auf die individuellen Wünsche der Baugruppe und späteren Bewohner eingehen. „Ein oft langwieriger Prozess, da jede Entscheidung per demokratischer Beschlussfassung abgesegnet wird“, berichtet Gipser von einem Spannungsfeld. Dem stand der enorme Zeitdruck vonseiten der Behörden gegenüber. „Zum Glück hatten wir die ausführende Partei gleich von Beginn an mit an Bord.“ Gemeinsam mit der Heutink Gruppe, der Baufirma, die von Beginn an am Entwurfsprozess teilnahm, ging man auf die Suche nach Spezialisten auf dem Gebiet des Holzbaus und fand mit Derix aus Niederkrüchten und den Ingenieuren von Pirmin Jung erfahrene Partner.

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Schallschutz: Entkopplungslager Doppelte Wände Abgehängte Decken 
Wände und Decken in Übergangsbereichen entkoppelt
Fußbodenaufbau mit Schaumbeton und Trittschalldämmung © Olaf Gipser Architects

Ausgeklügelte Holzkonstruktion

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© Olaf Gipser Architects

Ein wichtiger Bezugspunkt für die Planung des Neubaus war die exponierte Lage des Grundstücks am nördlichen Ufer eines Hafenbeckens. Der 45 m hohe, in Holzhybridweise mit Brettsperrholz-Elementen errichtete Neubau stellt auf 13 Ebenen insgesamt 35 Wohn- und Gewerbeeinheiten zur Verfügung. Stories umfasst 29 Wohnungen mit einer Größe von 43 m2 bis 185 m2, viele davon kombiniert mit Arbeits- und Gewerbeflächen, die Wohnen und Arbeiten an einem Standort ermöglichen. Das Objekt bietet zehn verschiedene Wohnungstypen, bestehend aus ein- und zweigeschossigen Einheiten. Die Deckenhöhe beträgt rund 2,9 bzw. 6,1 m. „Der zehngeschossige Holzturm ist – mit Ausnahme des dreigeschossigen Sockels und des Kerns aus konventionellen Betonfertigteilen – komplett in Brettsperrholz gebaut. Tragende Holzportale mit großen Öffnungen ermöglichen eine räumliche Verbindung über die Erker hinweg und erlauben eine flexible Aufteilung von einer bis zu sechs individuellen Einheiten pro Etage“, weiß der Architekt. Unter dem Betonsockel befindet sich eine Tiefgarage mit 40 Pkw-Stellplätzen.

Knapp 1000 Kubikmeter Holz verbaut

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© Derix

Neben der Hauptkonstruktion aus insgesamt 770 m3 Brettsperrholz (BSP) kamen dabei auch vorgefertigte Holzskelettbauelemente für die Fassade zum Einsatz. Die BSP-Module waren ab Werk bereits mit dreifach verglasten Holzrahmenfenstern mit einer 30 cm dicken Wärmedämmung aus Steinwolle sowie mit einer außenseitig dichten Verkleidung ausgestattet worden. Vor Ort wurde zusätzlich eine außenseitige Wetterschutzverkleidung aus vorvergrauten, hydrothermisch modifizierten und feuerbeständig imprägnierten Fichtenholzlatten ergänzt. „Die Böden bestehen ebenfalls aus BSP-Platten, die in den darunter liegenden Geschossen als Holzdecken freigelegt sind und mit einer Schalldämmung aus Schaumbeton kombiniert wurden“, erklärt Gipser. Die Wände der einzelnen Einheiten sind für eine optimierte Akustik mit feuer- und schalldämmenden Gipskartonplatten verkleidet. „Meine persönlichen Herausforderungen bei diesem Projekt waren, sich mit den niederländischen Normen vertraut zu machen, die von den deutschen und auch den schweizerischen Normen abweichen, und die Sprachbarriere. Da musste das gesamte Team nicht nur planerisch seine Kreativität unter Beweis stellen, sondern auch darauf achten, dass es aufgrund der Sprachunterschiede während der Planung und Ausführung nicht zu Missverständnissen kommt“, sagt Pirmin Jung-Projektleiter Adrian Saurer. „Die fachlichen Herausforderungen lagen vor allem darin, die Schnittstelle des Holzbaus mit dem Massivkern in Betonfertigteilen zu koordinieren und umzusetzen. Weiter fand ich den vertikalen Lastabtrag aus BSP-Wandstücken mit daraufgelegten Unterzügen in Brettschichtholz (BSH) spannend. Der Schallschutz mit BSP und Vorsatzschalen aus Gipskartonplatten verlangte in der Detailentwicklung eine sorgfältige Arbeitsweise.“ Knapp 1000 m3 Holz überwiegen den verwendeten Beton und Stahl und substituieren somit 300 t CO2.

Fassade als grüner Hingucker

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Urbanes Leben am Hafen: Die Wohnungen bieten großzügige Öffnungen und flexible Unterteilungen. Grünzonen bilden einen natürlichen Sichtschutz. © Olaf Gipser Architects

Charakteristisch für das Erscheinungsbild von Stories ist die tiefe, als Mikroklimazone konzipierte Fassade, die allen Wohneinheiten einen großzügigen Außenraum in Form von Balkonen und Wintergärten bietet. Sie hat eine kühlende Wirkung auf das Gebäude, indem sie Schatten auf die Fassade wirft und 57 Vegetationseinheiten beherbergt. „Das vorgelagerte Grünregal, dessen individuelle Pflanzbehälter für Bäume, Büsche und Gräser jeweils 1200 kg wiegen, wurde als Stahlkonstruktion umgesetzt. Die großen Grünzonen dienen als doppelgeschossige vertikale Nischen für Bäume, Büsche und Gräser und bilden gleichzeitig einen Sichtschutz zwischen den einzelnen Einheiten“, erklärt Gipser. Die Pflanzenbewässerung erfolgt automatisch. Ausschlaggebend für die Gestaltung der gesamten Außenhülle war das raue, feuchte Klima der vegetationsarmen Hafengegend. „Im Zusammenspiel haben wir damit eine vielfältig nutzbare und abwechslungsreiche Pufferzone geschaffen, welche die Biodiversität vor Ort stärkt“, freut sich Gipser. Abgerundet wird das Projekt durch eine große Photovoltaikanlage mit 450 Kollektoren am Dach des Gebäudes, die insgesamt 85 000 kWh Energie jährlich erzeugt und die Ökobilanz des Wohnturms optimiert.

„Müssen selbstkritisch sein“

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© Heutnik Group

Für niederländische Verhältnisse stellt Stories laut Gipser sicherlich ein Pionierprojekt dar, sei aber gleichzeitig ein großes Experimentierfeld gewesen. „Im Nachhinein gesehen würde man heutzutage einige Dinge sicherlich anders planen. Ich bin davon überzeugt, dass man noch mehr Holz verwenden hätte können, gerade was das Sockelgeschoss und den Versorgungskern betrifft. Wir müssen jedoch die positiven Erfahrungen hervorheben, gleichzeitig aber auch selbstkritisch sein, gerade was Vorkehrungen im Bereich des Schall- und Brandschutzes betrifft. Nur so können Planer rund um den Globus voneinander lernen“, so der Architekt. Für die Niederlande als Deltaland mit Zugang zu vorwiegend mineralischen Baustoffen sei der Holzbau ein Prozess des „learnings by doing“: „Unser Land hat keine lange Holzbautradition wie waldreiche Länder. Österreich kann darauf zurückgreifen. Wir hingegen müssen uns auf diesem Gebiet noch sehr viel Wissen aneignen.“ Aus diesem Grund sei der Architekt auch sehr froh darüber, in den nächsten Jahren als Professor für Wohnbau Teil der Universität Innsbruck zu sein (siehe Interview). Dabei will er auch viel zum Thema Holzbau forschen und freut sich über den Austausch mit österreichischen Experten.

Projektdaten

Bauzeit: 2016 – 2021
Bauherr: Baugruppe BSH20A
Architektur: Olaf Gipser Architects
Bauunternehmen: Heutink Groep
Holzbau: W. u. J. Derix GmbH & Co. KG
Werkstattplanung Holzbau: Constructie Adviesbureau Geuijen
Statik: Alferink van Schieveen (Hauptkonstruktion); Adviesbureau Van Geuijen (Holzbau)
Tragwerksplanung Holzbau: PIRMIN JUNG Deutschland GmbH
Bauphysik: PIRMIN JUNG Deutschland GmbH
Schallschutz: Nieman Raadgevende Ingenieurs
Brandschutz: Bureau Veldweg
Bruttogeschossfläche: 5500 m2
Holzmenge: 1000 m³