Tanz der Roboter

Ein Artikel von Raphael Zeman | 26.07.2022 - 10:13
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Im robotischen Fertigungslabor der ETH fügten vier Roboterarme die dreieckigen BSP-Platten milimetergenau miteinander. © Pascal Bach/Gramazio Kohler Research, ETH Zürich

Bis heute ist nicht sicher, wo genau sich die „Hängenden Gärten von Babylon“ befanden, oder wer sie errichten ließ. Nach den Berichten griechischer Autoren aus der Antike war es entweder die Königin Semiramis – daher der Name des hier vorgestellten Projekts –, oder aber der babylonische König Nebukadnezar II, dessen Gemahlin sich nach Wäldern und Bergen sehnte. Vermutlich bestand der Bau, der zu den sieben Weltwundern der Antike zählt, großteils aus Ziegeln und wurde zum Schutz vor Feuchtigkeit durch die Bepflanzung beziehungsweise deren Bewässerung mit Blei abgedichtet.

Ganz anders als das historische Vorbild besteht das Wahrzeichen des neuen Tech Clusters im Schweizer Zug aus Holz und Stahl. Entworfen wurde „Semiramis“ von Forschenden aus der Gruppe der ETH Zürich Architekturprofessoren Fabio Gramazio und Matthias Kohler zusammen mit Müller Illien Landschaftsarchitekten, Timbatec und weiteren Partnern aus Industrie und Forschung. Mithilfe künstlicher Intelligenz und vier kooperierender Roboterarme plante und fertigte das Team die bis zu 22,5 m hohe Skulptur. Sie besteht aus fünf Holzschalen, die leicht zueinander versetzt sind und von acht schlanken Stahlstützen getragen werden. Semiramis soll nun nicht nur als Forschungsprojekt und Wahrzeichen, sondern auch als vertikales, urbanes Habitat für heimische Pflanzen – auch Bäume – und Tiere fungieren.

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Die Visualisierung ließ bereits erahnen, wie imposant Semiramis in Realität aussieht. © Pascal Bach/Gramazio Kohler Research, ETH Zürich

Revolutionärer Entwurfsprozess

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© Pascal Bach/Gramazio Kohler Research, ETH Zürich

Üblicherweise gestaltet sich ein architektonischer Entwurfsprozess so, dass die Planer versuchen, ein Gebäude beziehungsweise eine Struktur an die unterschiedlichen Anforderungen anzupassen. Nicht so bei Semiramis: Ein maßgeschneiderter Machine-Learning-Algorithmus zeigte den Forschenden ausgeklügelte Gestaltungsmöglichkeiten auf, die sich hinsichtlich der Form der Schalen sowie deren räumlicher Anordnung zueinander unterscheiden. Zudem veranschaulicht der Algorithmus, wie sich die unterschiedlichen Designs auf Faktoren wie zum Beispiel die Beregnung, Beschattung oder bepflanzbare Fläche der Schalen auswirken. „Das Computermodell ermöglicht es uns, den konventionellen Gestaltungsprozess umzukehren und den gesamten Gestaltungsspielraum für ein Projekt zu explorieren. Dadurch entstehen neue, oft überraschende Geometrien“, berichtet Matthias Kohler, Professor für Architektur und digitale Fabrikation an der ETH Zürich.

Im „Immersive Design Lab“, einem Labor für erweiterte Realität auf dem Campus Hönggerberg, wurden die Entwürfe in weiterer Folge dreidimensional und in Echtzeit näher unter die Lupe genommen und weiterentwickelt. Dabei kam eine Software zum Einsatz, die gemeinsam mit dem Computational Robotics Lab der ETH entwickelt wurde und es ermöglicht, die Entwürfe der Holzschalen einfach anzupassen: Verschieben die Wissenschaftler beispielsweise einen einzelnen Punkt innerhalb der Geometrie einer der Schalen, die sich aus rund 70 Brettsperrholz (BSP)-Platten zusammensetzen, passt die Software die gesamte Geometrie an. Dabei berücksichtigt sie gleichzeitig relevante Fertigungsparameter, wie beispielsweise das maximal mögliche Gewicht einer Platte. So wird zu jeder Zeit die effizienteste und belastbarste Konfiguration gewährleistet.

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Nachdem die Roboterarme ihre Arbeit geleistet haben, werden die Elemente mit Gießharz von Handwerkern verleimt. © Pascal Bach/Gramazio Kohler Research, ETH Zürich

Vier Kerninnovationen

Das Projektteam rund um Gramazio und Kohler spricht von vier Kerninnovationen, die im Zuge von Semiramis entwickelt wurden und zur Anwendung kamen:

Maschinelles Lernmodell:
Ein sogenannter „Autoencoder“ – ein künstliches neuronales Netz, das man gemeinsam mit dem Swiss Data Center entwickelte – wurde so trainiert, dass er sowohl Form als auch räumliche Anordnung der Schalen inklusive deren Leistung in Bezug auf Sonnen- und Regenschutz sowie bepflanzbare Fläche abbildet. Das ermögliche laut den Professoren eine Umkehr des Entwurfsprozesses, denn die Architekten können sich nun vollends auf die Gestaltung und Erkundung des Entwurfsspielraums konzentrieren.

Interaktives Entwurfswerkzeug: Als zweite Innovation verstehen die Forscher das interaktive Entwurfswerkzeug, welches zusammen mit dem Computational Robotics Lab der ETH entwickelt und in eine bestehende 3D-Modellierungssoftware integriert wurde. Mithilfe dieser Software kann die komplexe Geometrie der facettierten Schalen einfach angepasst werden, während Maximalwerte beispielsweise hinsichtlich Neigung, Größe und Gewicht eingehalten werden. Gleichzeitig wird die strukturelle Tragfähigkeit verbessert. Verschiebt man einen einzelnen Punkt innerhalb der Geometrie, passt das Werkzeug automatisch die gesamte Struktur unter Einhaltung der vorgegebenen Parameter an.

Kollaborative Roboterfertigung: Für den anspruchsvollen Multi-Roboter-Montageprozess, der im Robotic Fabrication Laboratory der ETH realisiert wurde, arbeitete Gramazio Kohler Research mit Intrinsic, dem Robotik-Softwareunternehmen von Alphabet, zusammen. Intrinsic entwickelte eine Lösung für die Bewegungs- und Bahnplanung von Robotern, die mit COMPAS FAB verwendet werden kann – einem Open-Source-Framework für die digitale Fertigung, welches wiederum an der ETH entwickelt wurde.

Fabrikation und Montage: Die vierte Innovation sieht das Projektteam in der Fabrikation und Montage, speziell in Hinblick auf die zerlegbaren Elemente für den einfacheren Transport. Dafür wurden die fünf Schalen in 14 Segmente zerlegt, die wiederum aus 16 bis 56 Platten bestehen. Diese sind mittels einer neuartigen Fugenabdichtungstechnologie, die in jahrzehntelanger Zusammenarbeit von Timbatec, der Berner Fachhochschule in Biel und der ETH entwickelt wurde, verbunden. Das Verfahren ermöglicht eine starre Verbindung von größeren Holzplattenkanten über eine Stoßfugenverklebung, indem ein spezielles Gießharz in die 3 mm breiten Fugen zwischen die robotergelegten Platten injiziert wird.

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Die Platten sind mittels einer neuartiger Fugenabdichtungstechnologie verbunden: Das Verfahren ermöglicht eine starre Verbindung von größeren Holzplattenkanten.

Mensch und Maschine im Einklang

Der final ausgewählte Entwurf wurde schlussendlich im robotischen Fertigungslabor der ETH realisiert. Dabei kamen vier hängende Roboterarme zum Einsatz, die auf einem Portalsystem an der Decke montiert sind. Auf zwei linearen, im rechten Winkel zueinander angeordneten Achsen können sich die Arme hin und her bewegen, die ihnen zugewiesenen dreieckigen Platten aufnehmen und sie gemäß dem Computerentwurf im Raum platzieren. Diese vier Platten wurden anschließend von Handwerkern zuerst temporär verbunden und dann mit einem speziellen Gießharz verleimt. So wurden 51 bis 88 BSP-Platten zu jeweils einer Holzschale zusammengefügt. Der Vorteil dieser Fertigungsart: Die Roboter nehmen den Handwerkern das schwere Heben und die millimetergenaue Positionierung ab, zugleich werden aufwendige, ressourcenintensive Unterkonstruktionen obsolet. Die Menschen übernehmen wiederum jene Aufgaben, die viel Geschicklichkeit erfordern und überwachen den Produktionsprozess. So war auch bei der Fertigung von Semiramis immer ein Zimmerer zugegen, um die Qualitätskontrolle sicherzustellen.

Ein Einblick in den robotischen Fertigungsprozess an der ETH Zürich. © ETH Zürich

25 Wochen Bauprozess

Um den Transport auf die Baustelle zu vereinfachen, wurden die Schalen in Segmenten gefertigt, per Lkw nach Zug überführt und erst auf dem Vormontageplatz zusammengesetzt, abgedichtet, aufgerichtet und bepflanzt. Die Schalen mit einem Durchmesser von ca. 10 m wiegen ohne Substrat, Bepfanzung und Wasser zwischen 4 und ca. 7 to. Beim Errichtungsprozess wurden erst die untersten Stützen auf Fundamente gestellt, dann die erste Schale als Ganzes mit dem Kran versetzt und verschraubt und anschließend die nächste Ebene nach demselben Prinzip montiert. Die Stützen sind bei den Schalendurchdringungen segmentiert. Von der Montage der Schalensegmente per Roboter (ca. 16 Wochen) über das Fertigstellen der Schalen (Zusammensetzen der Segmente und Abdichten, ca. 8 Wochen) bis zum fertigen Bauwerk (Montage auf der Baustelle in 3 Tagen) vergingen rund 25 Wochen.

Semiramis hat als Leuchtturmprojekt der Architekturforschung Menschen inner- und außerhalb der ETH zusammengeführt und heute maßgebende Forschungsthemen wie interaktives Architekturdesign und digitale Fabrikation vorangetrieben.


Matthias Kohler, Professor für Architektur und digitale Fabrikation (ETH Zürich)

Ein grünes Leuchtturmprojekt

Die Stapelung der Schalen ergibt sich aus den Pflanzenschichten. Unten befinden sich bodennahe Gräser und Farne, darauf folgen Stauden und Sträucher und schließlich Bäume wie Birken oder Feldahorn mit einer Höhe von bis zu 7 m. So werden die Pflanzen in jeder Schale sorgfältig gemischt und dicht platziert – die einzelnen Pflanzetagen sind dabei unter Berücksichtigung des Licht- und Niederschlagseinfalls angeordnet. Die Leitungen für die Bewässerung und Nährstoffversorgung befinden sich in den Stützen. Die Schalen selbst sind konstruktiv vor Feuchtigkeit geschützt: Um die Dichtigkeit zu gewährleisten, wurde auf der Innenseite eine Folie verlegt. Der Schalenrand ist durch das Stahlprofil (das auch strukturell wirksam ist und als Zugring funktioniert) geschützt, das auch eine Abtropfkante ausbildet. Eine weitere Abtropfkante befindet sich am Stützenanschluss.

„Semiramis hat als Leuchtturmprojekt der Architekturforschung Menschen inner- und außerhalb der ETH zusammengeführt und heute maßgebende Forschungsthemen wie interaktives Architekturdesign und digitale Fabrikation vorangetrieben“, beschreibt Kohler die Errungenschaften des Projekts. Und wer weiß? Vielleicht wird man irgendwann einmal vom achten Weltwunder – den Hängenden Gärten von Zug – sprechen.

Anmerkung: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lagen der Redaktion keine Bilder des fertiggestellten Projekts vor. Hier finden Sie weitere Fotos vom Fertigungsprozess und der Montage (Fotostrecke unten).

Projektdaten

Standort: Zug, Schweiz
Bauherr: Urban Assets Zug AG
Fertigstellung: Sommer 2022
Entwurf: Gramazio Kohler ResearchETH Zürich
In Zusammenarbeit mit: Müller Illien LandschaftsarchitektenTimbatec
Generalunternehmer: Erne AG Holzbau
Partner: TS3 AG, Intrinsic, Computational Robotics Lab & Chair of Timber Structures (ETH Zürich), Swiss Data Science Center