Schule bewahrt Holzerbe

Ein Artikel von Birgit Gruber | 04.01.2023 - 09:55
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© Zhao Sai

Seit Jahren sind die Dörfer der Dong-Minorität mit dem allgegenwärtigen Verfall ihres architektonischen Erbes konfrontiert. Ganze Dörfer, die über Jahrhunderte aus einem einzigen nachhaltigen Material – der einheimischen chinesischen Tanne – gebaut wurden, verlieren durch den vermehrten Einsatz von Beton rapide ihre Identität. Die kulturelle DNA von Dong wird durch das zeitgenössische Leben und das Streben nach Modernisierung in Frage gestellt. Die Pingtan-Grundschule, die vor 20 Jahren am Rande des Dorfes ganz aus Beton gebaut wurde, ist ein Paradebeispiel für diesen Zustand. Der Komplex, der mehr als 300 Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren beherbergt, besteht aus einem Cluster von fünf Gebäuden, darunter eine Aula mit Kantine, Klassenräume, Schlafsäle und ein Verwaltungsgebäude, die alle einen Innenhof umgeben.

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Das Holzgebäude zwischen den Betonbauten. Es soll die alte Holzbautradition wieder aufleben lassen. © Zhao Sai

Lebendiges Erbe

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© Zhao Sai

Für den Bau einer neuen Bibliothek am Schulgelände besinnten sich die Architekten von Condition_Lab zurück zu alten Traditionen. Der Entwurf für das „Pingtan Book House“ in Form eines Holzbaus fördert eine Form von „lebendigem Erbe“, um die Kinder zu inspirieren und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, ihre wertvolle Kultur zu schätzen. Das Projekt ist die zweite von Condition_Lab entworfene Bibliothek in der Region. Die erste ist das „Gaobu Book House“, das sich 10 km flussaufwärts befindet. 

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Eine Treppe, die niemals endet, eine unendliche Schleife aus Setz- und Trittstufen, die in ein traditionelles Holzhaus hineingepasst wurde. © Zhao Sai

Zusammenarbeit mit Universität

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© Zhao Sai

Die Idee ist einfach: Jedes Projekt nimmt die traditionelle Typologie des Dong-Holzrahmenhauses auf und passt sie an ein zeitgenössisches Design an, bei dem Elemente wie Treppen, Wände, Fenster und Böden neu interpretiert werden. Condition_Lab arbeitete dabei eng mit lokalen Zimmerleuten und Studenten der CUHK School of Architecture zusammen. „Lokal“, „langsam“ und „aufmerksam“ sind allesamt Schlüsselattribute des Projekts ohne die die Bibliothek nicht möglich gewesen wäre. Durch einen Prozess der Partizipation gewann das Büro das Vertrauen der Dorfbewohner und des Schulleiters und konnte so ein soziales Narrativ schaffen, das auch dazu beitrug, Geldgeber für das Projekt zu finden. Schließlich wurde das Gebäude mit einer einzigen Spende in Höhe von umgerechnet 72.400 € aus dem Chan Cheung Mun Chung Charitable Fund gebaut, die die gesamten Baukosten deckte.

Holz, soweit das Auge reicht

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Die unendliche Treppe ist das Highlight des Hauses. © Zhao Sai

Die außergewöhnliche Bibliothek wurde vollständig aus Holz gebaut, einschließlich der Wände, Treppen und Böden. Einzig an der Fassade kamen Stegplatten zum Einsatz, um das Sonnenlicht in die Innenräume zu lassen und den Blick nach draußen freizugeben. Die Konstruktion erfolgte nach den traditionellen Dong-Zimmermannsregeln. Das Besondere am Gebäude ist seine geheimnisvolle Treppe, die kein Ziel hat, sondern selbst das Ziel ist. Die Wände des Hauses wurden in eine Matrix aus Bücherregalen und Fenstern mit Blick auf einen Innenhof verwandelt. Das Pingtan Book House ist ein Ort, an dem Kinder gleichzeitig lesen und spielen können.

Architektur muss einen Zweck haben

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Durch ihre außergewöhliche Fassade ist die Bibliothek schon von Weitem sichtbar. © Zhao Sai

Der Wert dieses Projekts liegt laut Architekten in zwei grundlegenden Lehren. Erstens hat es einen direkten Bezug zu den Kindern von Pingtan, die nicht nur Spaß daran haben, in der Bibliothek zu spielen, sondern auch gelernt haben, dass ihre Kultur lebt und in dieser sich schnell verändernden Welt relevant bleibt. Die zweite Lektion bezieht sich auf die Disziplin selbst, in einer Zeit, in der die Architektur, insbesondere in städtischen Metropolen wie Hongkong, ihre Seele an immer anspruchsvollere Bauherren verloren zu haben scheint. Diese Realität macht einem die soziale Bedeutung der Architektur bewusst. Soziale Wirkung erfordert keine großen finanziellen Investitionen, und Design ist nicht auf High-End-Projekte beschränkt. Um es einfach auszudrücken: Architektur muss einen Zweck haben.

Quelle: Condition_Lab