„Üses Holz – üsen Stolz“

Ein Artikel von Birgit Gruber | 20.11.2023 - 11:02
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Werkraum der Schule in Weinfelden. © Ladina Bischof

Schulen sind die erste Stufe des Bildungssystems. Oft sind sie ein zaghafter Schritt im Leben der Kinder von der Familie in die Gesellschaft. Freundschaften werden geschlossen, spannende Entdeckungen gemacht. Erfolge und Enttäuschungen werden erlebt. Vielerorts haben Schulhäuser eine lange Tradition, werden zu Recht geschätzt, müssen aber im Laufe der Zeit saniert oder adaptiert werden. Platzmangel ist dabei ein großes Thema, wenn sich Bevölkerungsprognosen nicht bewahrheiten. Selten wird ein bereits bestehendes Schulhaus abgerissen, um einem Ersatzneubau zu weichen. In der Schweizer Gemeinde Weinfelden im Kanton Thurgau, zwischen Zürich und dem Bodensee, stand man bei der Frage nach der Zukunft der Martin Haffter Primarschule jedoch vor keiner anderen Wahl. Das Gebäude hatte nach nur 45 Jahren seine Substanz und Nutzbarkeit verloren. 

Bestehende Schule wies grobe Baumängel auf

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Entstanden ist oberhalb des unterirdischen Notspitals ein rund 44 x 44 m großes, enorm kompaktes Gebäude mit minimalen Erschließungsflächen und vielfältigen Sichtbezügen über alle Geschoße hinweg. © Ladina Bischof

„1970 scheiterte am Standort das Projekt für ein neues Schulhaus bei einer Volksabstimmung. Eine Bürgerbewegung kritisierte es damals als zu teuer und versenkte die Vorlage mit einem kurzerhand entworfenen Gegenprojekt. Sparen war die Devise. Doch das 1973 billig gebaute Schulhaus war von Anfang an zu kleinräumig, von chronischen Baumängeln geplagt und am Ende zu wenig flexibel für eine Erweiterung“, weiß Manuel Gysel von Isler Gysel Architekten aus Zürich. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellte sich die Gemeinde die Frage, welche Art von Architektur ein Kind am besten bei seiner Reifung unterstützt. Von 2016 bis 2017 wurde ein Projektwettbewerb im offenen Verfahren durchgeführt, bei dem insgesamt 56 Projekte eingereicht wurden. Für den Wettbewerb wurde die Frage nach Sanierung, Erweiterung oder Ersatzneubau den Architektenteams bewusst offengelassen. „Unser Konzept, das einen Ersatzneubau in Holzbauweise südlich des bestehenden Schulhauses vorschlug, wurde schließlich ausgewählt. Mit diesem Ansatz waren unter anderem keine teuren Provisorien und mehrmalige Umzüge nötig“, berichtet Gysel. Im September 2017 wurden im Rahmen einer Volksabstimmung umgerechnet rund 1,8 Mio. € Projektierungskredit genehmigt. Im Februar 2019 akzeptierte das Stimmvolk dann auch den Baukredit in der Höhe von umgerechnet rund 28 Mio. €. Für die Realisierung des Projekts entschied sich die Schulbehörde als Bauherr für eine Zusammenarbeit mit dem Totalunternehmen Implenia aus Frauenfeld. Im April 2020 fand dann der langersehnte Baustart statt. Es folgte ein aufregendes Jahr mit Neubau, Umzug und Rückbau des in die Jahre gekommenen Schulgebäudes.

Gute Orte für gute Tage

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Zwei verglaste Lichthöfe führen Tageslicht bis ins Erdgeschoß und sorgen für optimale Lichtverhältnisse im gesamten Haus. © Ladina Bischof

„Wir haben auf einen leichten Holzbau gesetzt, da sich im Untergrund des Bauplatzes ein Notspital aus der Zeit des Kalten Krieges befindet und daher keine höheren Bodenbelastungen möglich waren. Das unterirdische Krankenhaus mit strengem Raumraster musste erhalten bleiben“, erzählt der Planer. Dem Neubau dient dieses Notspital nun – mittels eines betonierten Sockels für die Leitungsführung über dem unterirdischen Bau – als Fundament. „Das Betonieren des Sockels inklusive aller Leitungen und des Deckels hat knapp sechs Monate gedauert. Der Holzbau wurde hingegen binnen weniger Wochen aufgerichtet“, berichtet Gysel. Der Architekt weiß, dass gerade bei Schulen die Bauzeit entscheidend ist. Geplant wurde der Holzbau von Pirmin Jung aus Sursee, ausgeführt durch eine Arbeitsgemeinschaft der örtlichen Unternehmen Bornhauser Holzbau und Holzbau Wiesli sowie Kaufmann Oberholzer aus Roggwil. Konstruktiv ist das dreigeschoßige Schulhaus wie folgt aufgebaut: Die tragenden Wandachsen im Raster des Untergeschoßes verlaufen in Ost-West-Richtung und bilden die primäre Tragstruktur. Die Deckenkonstruktion wurde auf den Wandscheiben aufgelagert. Diese ist als Holz-Beton-Verbund Decke ausgeführt. Das hybride Bauteil besteht aus sichtbaren Brettschichtholz-Rippen im Verbund mit Fertigbetonelementen, die gleichzeitig als verlorene Schalung für den Überbeton dienen. Darauf aufgebaut ist ein konventioneller Bodenaufbau mit Trittschalldämmung, Unterlagsboden und Nutzbelag. Mit den Unterzügen, einigen frei stehenden Stützen und der Holzverkleidung im Bereich der Aula bleibt das maßgebliche Baumaterial trotzdem überall erkennbar. Nachhaltigkeit, Lebendigkeit, Verletzbarkeit und Komplexität sind Kriterien, die in unserer Gegenwart stetig an Bedeutung gewinnen und für die der Baustoff Holz steht. Damit werden gute Orte für gute Tage, die schließlich die Basis für ein gutes Leben sind, ermöglicht. „Schulen aus Holz, bei denen das Material sichtbar bleibt und haptisch erlebbar ist, sind darauf gute Antworten.“

„Unser Holz – unser Stolz“

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Über zwei kompakte Treppenaufgänge sind die Unterrichtsräume in den Obergeschoßen erreichbar. © Ladina Bischof

70 % des Schweizer Waldes gehören öffentlichen Waldeigentümern. Da Weinfelden ebenfalls über eine große Menge an Holz verfügt, wollte die Primarschulbehörde dieses für den Neubau nutzen. Doch leichter gesagt, als getan. „Bauherr und Gemeinde haben sich sehr stark mit der Idee des Holzbaus identifiziert, allen voran der Baukommissionspräsident. Sie wollten das Haus unbedingt aus lokalem Holz bauen.” Doch dieses Vorhaben war juristisch komplex, da ein Schulgebäude in dieser Art und Größe eine öffentliche Ausschreibung verlangte. Um die Verwendung des regionalen Baumaterials zu garantieren, hatte die Schulbehörde schließlich die Idee, den gesamten Planungs- und Bauprozess in Form eines Schulprojektes unter dem Titel „Üses Holz – üsen Stolz“ („Unser Holz – unser Stolz“) zu begleiten. Die Devise lautete: „Aus pädagogischen Gründen ist die Nutzung von lokalem Holz notwendig, damit die Kinder den gesamten Bauprozess Schritt für Schritt nachverfolgen können.“ Dieser für die Nachhaltigkeit des Projekts wesentliche Entscheid wurde schon in einer frühen Planungsphase gefällt. Mithilfe eines Projektierungskredits und einem Jahr Vorlaufzeit war es möglich, die Tragwerksplaner von Pirmin Jung mit der Anfertigung von Bauteilstücklisten zu beauftragen. Damit konnte das Holz vorab aus dem nahegelegenen Wald bestellt werden und war somit fixer Bestandteil der Implenia-Ausschreibung. „Die lokale Holzbeschaffung soll nun schweizweit auch bei Projekten der öffentlichen Hand zur Anwendung kommen“, erklärt Gysel. Ab dem Baustart wurden die Schüler mit gelben Helmen ausgestattet, konnten im Wald die passenden Baumstämme mit Spraydosen markieren, im Sägewerk deren Weiterverarbeitung beobachten und anschließend in der Zimmerei mitverfolgen, wie daraus Bauelemente hergestellt werden. Gemeinsam mit den Lehrern erarbeiteten sie Modelle, malten Bilder und konnten auch bei der Gestaltung des Pausenraumes mitwirken. Regelmäßige Baustellenführungen standen natürlich an der Tagesordnung.

Die lokale Holzbeschaffung, wie bei diesem Projekt Betrieben, soll nun schweizweit auch bei Projekten der öffentlichen Hand zur Anwendung kommen.

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Architekt Manuel Gysel
© privat

Lernen im alten Schulhaus während der Bauzeit

Da der Neubau neben dem bestehenden Schulhaus entstand, brauchte es keine Übergangslösung für den Unterricht. Erst nach Fertigstellung im August 2021 wurde das alte Schulhaus abgerissen und an seiner Stelle der neue Pausenplatz erstellt. „Nach dem Umzug in das neue Gebäude kam noch einmal eine spannende Phase auf die Schulkinder zu. Sie konnten live mitansehen, wie die Bagger zum Abriss anrollten. Das fanden sie extrem toll“, schildert Gysel. 

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Im Zentrum des Schulhauses befindet sich ein großer Saal mit Theaterbühne, der eine Begegnungszone für Schüler und Lehrer darstellt. Ebenso kann er für Veranstaltungen oder Schulaufführungen genutzt werden. © Ladina Bischof

Entstanden ist ein rund 44 x 44 m großes, enorm kompaktes Gebäude mit minimalen Erschließungsflächen und vielfältigen Sichtbezügen über alle Geschoße hinweg. Im Zentrum des Schulhauses befindet sich ein großer Saal mit Theaterbühne, der im geöffneten Zustand eine Begegnungszone für Schüler und Lehrer darstellt. Im geschlossenen Zustand kann er für Veranstaltungen oder Schulaufführungen genutzt werden. Zwei verglaste Lichthöfe führen Tageslicht bis ins Erdgeschoß und sorgen für optimale Lichtverhältnisse im gesamten Haus. In den Obergeschoßen sind die Unterrichtsräume kranzförmig entlang der Fassade angeordnet. Diese sind über zwei kompakt gehaltene Treppenaufgänge erreichbar und verfügen jeweils über einen eigenen Vorraum. Je zwei Klassenzimmer und zwei Gruppenräume bilden mit dem Vorraum zusammen einen Cluster oder zwei Jahrgangsklassen. In der mittleren Zone sind die Bibliothek (2. OG) und zwei zusammenschaltbare Musikräume (1. OG) situiert. Diese Räume werden über die beiden Lichthöfe mit Tageslicht versorgt. Das Projekt spiegelt ein Stück weit die momentane Tendenz zu immer größeren und kompakteren Schulhäusern wider. Dank der Kompaktheit konnten die strengen Vorgaben des Minergie-P-Label spielend eingehalten werden. Rückblickend stellt Gysel fest: „Die wesentlichen Weichenstellungen sind bereits im offen und anonym durchgeführten Wettbewerb vorgenommen worden. Danach konnte das Projekt ohne größere Herausforderungen zügig umgesetzt werden. Die Planung ist relativ komplex, verlangt vom ganzen Planungsteam eine hohe Genauigkeit und von den Auftraggebern sowie Nutzern eine entsprechende Verbindlichkeit. Bei einem Holzbau ist also für alle Beteiligten relativ früh Redaktionsschluss. Genau das fördert die Qualität eines Bauwerks“, bringt es der Architekt auf den Punkt.

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In den Obergeschoßen sind die Unterrichtsräume  kranzförmig entlang der Fassade angeordnet. Jeweils zwei Klassenzimmer und zwei Gruppenräume bilden mit dem Vorraum zusammen einen Cluster oder zwei Jahrgangsklassen. © Ladina Bischof

Projektdaten

Standort: Weinfelden, Schweiz
Fertigstellung: 2021
Bauherrschaft:
Primarschulbehörde Weinfelden
Totalunternehmer:
Implenia Schweiz
Architektur:
Isler Gysel Architekten
Holzbau: ARGE aus:
Bornhauser Holzbau; Holzbau Wiesli; Kaufmann Oberholzer
Tragwerksplanung, Bauphysik und Brandschutz: Pirmin Jung