Ein neues Holzzeitalter

Ein Artikel von Birgit Gruber | 22.01.2024 - 10:12
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© NTU

Seit einigen Jahren diskutieren Geologen ausgiebig die Frage, ob wir nicht bereits in einem neuen Erdzeitalter leben. Eine Epoche, die sich durch den menschlichen Einfluss auf die Erde auszeichnet. Denn in nur wenigen Jahrzehnten ist es dem Menschen gelungen, alle wichtigen Faktoren messbar zu verändern. Der blaue Planet ist zu einem anderen geworden und die Klimakrise in aller Munde. Ein Schlüsselkonzept im Bausektor, diese Misere betreffend, ist die Kreislaufwirtschaft. Sie verringert die Abhängigkeit von endlichen Materialien und gibt erneuerbaren Ressourcen wie Holz den Vorzug. Die Nanyang Technological University (NTU) in Singapur ist führend bei der Verwendung nachhaltiger Materialien und innovativer Baumethoden für die Entwicklung ihres eigenen Campus. Ihr neuestes Projekt, benannt nach der griechischen Göttin Gaia, die personifizierte Erde und eine der ersten Gottheiten, setzt dieser Nachhaltigkeitsphilosophie jüngst die Krone auf. Das Gebäude setzt neue Maßstäbe und zeigt, was mit nachhaltigen Materialien und innovativen Baumethoden erreicht werden kann. Auch, wenn asiatische Städte dem weltweiten Holzbautrend noch etwas hinterherhinken, ist sich der 82-jährige Ito sicher, „dass sich die Einstellung zum Bauen mit Holz in Asien aktuell sehr schnell ändert“, und er fügt hinzu: „Singapur holt dabei besonders rasant auf.“

Fast so groß wie das Schloss Windsor

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Am Gelände der „Nanyang Technical University“ (NTU) entstand das derzeit größte Holzbauwerk Asiens. © NTU

Der im Mai eröffnete sechsstöckige Neubau läutet gleichsam ein neues Holzzeitalter ein, da er mit seinen Dimensionen beeindruckt und als das größte Holzgebäude Asiens gehandelt wird. Es ist das achte Null-Energie-Gebäude der NTU und mit einer Grundfläche von 43.500 m2 fast so groß wie Schloss Windsor. Damit passt der Campus auch zur Vision einer ganzen Region. Denn trotz dichter Besiedlung mit fast sechs Millionen Einwohnern auf kleinstem Raum wird in Singapur auf Biophilie und Zukunftsfähigkeit Wert gelegt. Der südostasiatische Stadtstaat ist eine der grünsten Metropolen der Welt und führend in nachhaltigem Gebäudedesign. Singapur übernimmt auch gerne eine Vorreiterrolle als ökologischer Innovator. Ein ambitionierter „Green Building Masterplan“ sieht auch eine vermehrte Verwendung des natürlichen Baustoffes Holz vor.

Die Menschen erfahren hier aus erster Hand, was es bedeutet, in einer nachhaltigen Umgebung zu arbeiten und zu lernen.

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Prof. Ho Teck Hu, NTU-Präsident
© Rory Daniel 2018

Behaglichkeit lädt zum Bleiben ein

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Dank des Einsatzes von Holz konnte die Struktur um ein Drittel der Zeit schneller errichtet werden, als es für eine Stahlbeton-Konstruktion erforderlich gewesen wäre. © NTU

Toyo Ito & Associates entwarfen Gaia zusammen mit dem lokalen Büro RSP Architects, um das bestehende NTU Innovation Centre zu ersetzen und der Wirtschaftshochschule der Universität ein neues Zuhause zu geben. Es besteht aus zwei geschwungenen Blöcken, die ein Auditorium mit 190 Plätzen, zwölf Hörsäle sowie eine Reihe von Seminarräumen, Labors, Büros, Klassenzimmern und Konferenzräumen enthalten. Gaia ist bereits das zweite Holzgebäude, das der Pritzker-Preisträger Ito für den Campus entworfen hat. Das erste ist die Sporthalle „The Wave“, die 2017 fertiggestellt wurde.

Laut dem berühmten japanischen Architekten bestand das Ziel bei der Verwendung von Holz diesmal darin, den Nutzern das Gefühl zu geben, dass sie sich unter Bäumen befinden: „Ich versuche mit meinen Entwürfen immer eine Verbindung zur Natur zu schaffen“, sagte er kurz nach der Einweihungsfeier gegenüber CNN. Ito, dessen Großvater Holzhändler war, erklärte außerdem, dass sein Designethos immer auf den Komfort der Nutzer ausgelegt ist. „Wenn ein Gebäude behaglich ist, werden die Menschen bleiben und es jeden Tag besuchen. Ich möchte Architektur schaffen, die den Menschen Lust zum Leben macht.“

Ruhe zum Lernen und Arbeiten

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© NTU

Während die sanft geschwungene Form von Itos jüngstem Projekt die historische Umgebung der Schule einbezieht, weist seine umweltbewusste Konstruktion und der Einsatz erneuerbarer Energien den Weg in die Zukunft. „Das Gebäude wurde entworfen, um die Menschen mit ihrer natürlichen Umgebung zu verbinden. Studenten und Dozenten profitieren von den großzügigen Freiflächen. Die Räume verfügen über viel natürliches Licht und schaffen eine Umgebung, die soziale Interaktion begünstigt. Die Menschen erfahren hier aus erster Hand, was es bedeutet, in einer nachhaltigen Umgebung zu arbeiten und zu lernen“, zeigt sich NTU-Präsident Prof. Ho Teck Hua erfreut. Diese Aussage bestätigt Kenneth Ong, der an der Universität im letzten Jahr studiert: „Ich fühle mich von der Atmosphäre sehr angezogen und ziehe mich hierher gerne zurück, wenn ich Ruhe zum Lernen und Arbeiten brauche.“

Schließlich sind es die Planer, die die Bauindustrie herausfordern müssen. Ansonsten würden wir immer nur das bauen, was wir bereits können.

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Johannes Rebhahn, Wiehag

Holz und Know-how aus Österreich

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Abbund bei Wiehag in Altheim: Rund 6000 m³ Brettschichtholz für 1900 Stützen und 1660 Träger inklusive vormontierter Verbindungsmittel gelangten nach Singapur. © Wiehag

Das Gebäude besteht fast vollständig aus vorgefertigten Holzelementen, mit Ausnahme der Bodenplatten im Erdgeschoß und der Stiegenhauskerne beziehungsweise Aufzugsschächte, die aus Beton gefertigt wurden. Für Balken und Stützen wurde Brettschichtholz verwendet, während für Wände, Decken, Dach und Treppen Brettsperrholz zum Einsatz kam. Diese Holzelemente wurden im gesamten Gebäude weitgehend freigelegt und sind sowohl von außen als auch von innen sichtbar. Große Fenster und Oberlichter sorgen für viel Tageslicht. „Wie so oft bei großvolumigen Projekten, bei denen Know-how, Qualität und Vertrauen wichtige Entscheidungskriterien waren, entschied sich die ausführende Baufirma für Wiehag. Rund 6000 m³ Brettschichtholz für 1900 Stützen und 1660 Träger inklusive vormontierter Verbindungsmittel von Pitzl wurden in 200 Containern von Altheim nach Singapur verschifft“, berichtet Johannes Rebhahn, verantwortlich für internationale Projekte bei Wiehag. Für ihn reiht sich das Projekt nahtlos in die weltweit umgesetzten Leuchtturmprojekte des österreichischen Familienunternehmens ein. Es sei eine Ehre gewesen, mit so einem namhaften Architekten wie Toyo Ito zusammenzuarbeiten. „Wir bringen auch immer sehr viel Verständnis für den Architekten auf. Wenn ein Entwurf auf den ersten Blick unrealistisch aussieht, motiviert uns das noch mehr. Wir suchen nach machbaren Lösungen. Schließlich sind es die Planer, die die Bauindustrie herausfordern müssen. Ansonsten würden wir immer nur das bauen, was wir bereits können. Wir denken dabei durchgängig projektbezogen. Von der Kalkulation bis zur Firstfeier.“ Der gleichen Auffassung ist man an oberster Spitze des Unternehmens: „Wir wollen Leuchtturmprojekte bauen, bei denen die Luft nach oben dünn wird und nur mehr ganz wenige Unternehmen in die Auswahl kommen”, ergänzt Firmenchef Erich Wiesner. „Wir wollen die Grenzen im Holzbau verschieben und aufzeigen, was mit Holz alles möglich ist. Denn wenn wir die höchsten Holzhäuser der Welt bauen können, wird niemand mehr hinterfragen, ob im Verhältnis dazu relativ kleine Zehngeschoßer im Stadtzentrum machbar sind. So wird die breite Masse auch mit Holz bauen. Wir sind seit jeher Pioniere und wollen diese Vorreiterrolle auch behalten.“

Logistische Meisterleistung

7670 m³ PEFC-zertifiziertes Brettsperrholz hat Stora Enso aus Ybbs geliefert. Die Elemente wurden in der richtigen Montagereihenfolge verpackt und mit verfolgbaren Etiketten in 29 Sendungen innerhalb von 639 Tagen zwischen September 2019 und Juni 2021 nach Singapur verschickt. Es war die größte Lieferung, die Stora Enso jemals an einem einzigen Standort vorgenommen hat. Verzögerungen durch Covid-Lockdowns auf der Baustelle in Singapur und den im Anschluss durch ein Containerschiff blockierten Suezkanal konnten durch die rasche Montage teilweise wieder aufgeholt werden. „Bei einer der ersten Lieferungen hatten wir auch gleich einen Covid-Ausbruch auf einem Schiff. Dieses musste dann drei Wochen vor Sri Lanka warten, bis es weitergehen konnte. Ein paar Wochen später saß eines unserer Schiffe ebenfalls im Suezkanal fest“, erzählt Rebhahn über die Herausforderungen des langwierigen Transports Übersee. In Singapur waren dann sechs Krane und bis zu 40 Monteure gleichzeitig für die Montage der Elemente im Einsatz. Zeitgleich produzierte und lieferte Wiehag Holzelemente für den Ascent Tower in der US-Großstadt Milwaukee. „Erst kürzlich haben wir nun auch den Auftrag für den nächsten Weltrekordhalter erhalten. Wir sind im Team für den Atlassian Tower in Sydney, welcher mit 182 m nach seiner Errichtung das höchste Holzhybridgebäude der Welt darstellt“, freut sich Rebhahn auf das nächste Wiehag-Großprojekt.

Wir wollen Leuchtturmprojekte bauen, bei denen die Luft nach oben dünn wird und nur mehr ganz wenige Unternehmen in die Auswahl kommen.

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Erich Wiesner, Wiehag

Regenfall erforderte bedachtes und rasches Handeln

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© Wiehag

Erschwerend zu den Bedingungen auf See kam die Tatsache hinzu, dass Singapur zu einem der feuchtesten Orte der Erde zählt, mit häufigen Regenfällen und hoher Luftfeuchtigkeit. Während der Errichtung von Gaia sollen es sogar die stärksten Regenfälle seit 40 Jahren gewesen sein. Bei konventionellen Bauprojekten hätten Baufirmen in so einem Fall ein Schutzzelt über die Holzbaustelle errichtet. Aufgrund der Größe des Neubaus war dies aber nicht möglich. So begannen die Arbeiter jeden Tag damit, Wasserlachen von den freiliegenden horizontalen Flächen abzukehren oder abzusaugen. Nach den nachmittäglichen Regenschauern wiederholten sie diesen Vorgang. „Die BSH-Bauteile wurden vor Ort einzeln in eine dampfdurchlässige Membran verpackt (eine Art Fassadenfolie). Diese vorsorgliche Maßnahme hielt unsere Elemente trocken, gab ihnen aber dennoch genug Luft zum Atmen“, erzählt Rebhahn. Steeltech Industries als ausführendes Holzbauunternehmen vor Ort passte ergänzend seinen Zeitplan an die sintflutartigen Regenfälle an und errichtete die obersten drei Stockwerke in einem Zug. Dies ermöglichte eine schnellere Abdichtung von mehr als 50 Balkonen, Terrassen, Brücken und Oberlichtern.

Für alle Beteiligten reiht sich das jüngste NTU-Gebäude in die Liste der Holzbaurekorde ein, und zwar nicht nur wegen seiner Größe sowie seiner positiven Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt. Es hat zudem deutlich unter Beweis gestellt, dass Holzbau auch in regenreichen Klimazonen machbar ist.

Projektdaten

Standort: Singapur
Fertigstellung: März 2023
Bauherrschaft:
Nanyang Technological University (NTU)
Architektur: Toyo Ito & Associates; RSP
Holzbau: Newcon Builders; Steel Tech Industries
Statik: Aurecon GroupTakenaka Corporation Timber Innovation Department
Systemlieferanten: WiehagStora Enso
Holzarten: Fichte und Lärche
verbaute Holzmenge:
rund 6000 m3 BSH, rund 7000 m3 BSP
Grundfläche: 43.500 m2
Baukosten:
113 Mio. €