Die Variabilität in der Serie

Ein Artikel von Birgit Gruber | 18.04.2024 - 13:46

Mit der Seestadt Aspern entsteht seit mehr als zehn Jahren ein neuer Stadtteil am nordöstlichsten Rande Wiens. Hier sollen künftig mehr als 25.000 Menschen leben und 20.000 arbeiten. Rund um einen künstlich angelegten See wird in mehreren Bauphasen an der Entwicklung gearbeitet. Im sogenannten Seeparkquartier entstand dort mit dem „Hoho“, dem Holzhochhaus in Holzhybridbauweise von RLP Rüdiger Lainer + Partner, der wohl bekannteste Holzbauvertreter. Auf der gegenüberliegenden Uferseite wurde mit dem „Forum am Seebogen“ 2022 ein Wohnungsbau fertiggestellt, für den die Wiener heri&salli verantwortlich zeichnen. Es ging als Siegerprojekt aus einem Konzeptwettbewerb über ein „nutzungsoffenes Stadthaus“ hervor. Heribert Wolfmayr und Josef Saller sahen die Vorgabe als Chance, mit ihren eingereichten Unterlagen die Potenziale des modularen Holzbaus zu erweitern. Doch kam es anders als anfangs getüftelt.

Der Mensch als Ursache für ein räumliches Konzept

Seepark3.jpg

„Forum am Seebogen“ entwickelte die Möglichkeiten der Holzmodul- und Systembauweise weiter und lotete sie auf innovative Weise aus. © Paul Ott

„Die Seestadt in Aspern ist für uns ein spannendes Entwicklungsgebiet, da es dort noch keine gebaute Geschichte gibt. Die wichtigsten Kriterien, damit man einmal von Urbanität sprechen kann, werden in Zukunft wohl die gesamte Infrastruktur, das soziale Leben und die daraus resultierende Gemeinschaft sein“, erzählen die beiden bei einem Interview in ihrem  Büro. Denn erst durch sein Gegenüber erhalte das verbaute Material seinen Sinn und seine Aufgabe. Der Mensch als aktiver Part werde immer wieder zur Ursache für ein räumliches Konzept. Man sehe die Seestadt diesbezüglich als großes Experimentierfeld. „Wenn man in der Seestadt baut, hat man eine sehr gute Moderation durch die ,3420 aspern Development’. Gemeinsam mit ihren Partnern koordiniert die Entwicklungsgesellschaft den Städtebau und den Ausbau der Infrastruktur“, weiß Saller.

Ein Experiment oder doch nicht?

180409_Forum am Seebogen.jpg

Die Architekten haben sechs unterschiedliche Module hergestellt. Die Besonderheit des Entwurfs liegt in der vielfältigen Kombinierbarkeit dieser Module. © heri&salli

Gemeinsam wollte man das Experiment „Holzmodulbau neugedacht“ wagen. Ein Grund dafür war die Tatsache, dass das Quartier Präsentationsort der Internationalen Bauausstellung IBA 2022 sein sollte. „Die Vorgaben für das Konzeptverfahren waren deshalb sehr streng. Der Kaufpreis war fixiert und die Bauzeit mit maximal sechs Monaten vorgegeben. Antreten durften ausschließlich Teams aus Bauträgern, Architekturbüros und Bauunternehmen“, berichtet Saller. An dem Verfahren nahmen zehn Teams teil. „Die Jury unter dem Vorsitzenden Johannes Kaufmann wählte unser Projekt aus. Damals hatten wir bereits den Wohnbauträger Familienwohnbau und ein slowenisches Holzbauunternehmen mit an Bord. Unser Siegerprojekt war da noch ein reiner Holzmodulbau“, erzählt Wolfmayr. Derartige Gebäude gewinnen ihre Effizienz durch die Addition vieler identischer Raummodule und wirken deshalb oft monoton. Doch das Konzept von heri&salli war so durchdacht, wie es die beiden schildern: „Wir wollten einen konventionellen Modulbau vermeiden, indem wir sechs unterschiedliche Wohnmodule hergestellt haben. Die Besonderheit des Entwurfs liegt in der vielfältigen Kombinierbarkeit dieser Module. Sie können beispielsweise ausgelassen und durch eine Terrasse ersetzt werden. Wenn man sie um 90 Grad dreht und in der Gebäudetiefe verschiebt, verläuft die Erschließung entweder über einen Laubengang oder einen Mittelgang und variiert so von Geschoß zu Geschoß. Die Module wurden in einem Raster von 3,40 mal 3,40 m positioniert. Dort, wo die Module einen Leerraum ließen, wurden sie statisch durch hölzerne Stützen und Träger ersetzt.“ Damit könne man mehr Variabilität in die Serie bringen. Das zeigen auch die Visualisierungen. Hinzu kommen Mini-Labs, die zu bestimmten Wohneinheiten addiert werden können.

Der modulare Raum wird letztendlich in 30 Jahren eine Art hybrides Wesen sein.

20200527_heri-salli_0021 copyright_ Hans Schubert_1c_18.jpg
Heribert Wolfmayr (r.) und Josef Saller, Architekten
© Hans Schubert

Auf Holzelement- und -modulbauweise gesetzt

Harrer_1c.jpg

Johann Harrer, Projektleiter Strobl Holzbau © Fotostudio Alexandra

„Alle Parameter sprachen dafür, dass wir das geplante Projekt so auch hätten umsetzen können“, erklärt Saller. Die Betonung liegt hier allerdings auf dem 2. Konjunktiv. „Ich kann an dieser Stelle lange erzählen, warum das Projekt als reiner Modulbau gescheitert ist, doch das erspare ich Ihnen“, meint Saller weiter. Tatsächlich lag es am Ende an den vorgegebenen Kosten. „Außerdem mussten wir auf die Suche nach einem neuen Holzbauunternehmen gehen, da uns der slowenische Hersteller kurzfristig abgesprungen ist“, ergänzt Wolfmayr. Nach der Fertigstellung im Sommer 2022 ist das Gebäude schließlich eine Kombination aus Holzelement- und -modulbauweise. Der siebengeschoßige Baukörper beinhaltet 20 Wohnungen, vier Kleinbüros, ein Großraumbüro im Dachgeschoß und ein Geschäftslokal in der Sockelzone. Die vertikale Erschließung im Norden an der Eileen-Gray-Gasse wurde als offenes Stiegenhaus mit Aufzug errichtet. Eine Begrünung musste an dieser Stelle aus Brandschutzgründen weggelassen werden. Unter- und Erdgeschoß wurden in klassischer Stahlbetonbauweise errichtet, die ersten fünf Obergeschoße in Holzelementbauweise. Das Dachgeschoß besteht aus vorgefertigten Holzmodulen. Die Ausführung übernahm schließlich Strobl Holzbau aus Weiz. „Wir haben hier zweifellos ein zukunftsweisendes Baumodell. Die Holzriegelbauweise eignet sich ideal für flexible und unregelmäßige Grundrisse, während die Modulbauweise perfekt für regelmäßige Grundrisse geeignet ist. Die Synergie aus beiden ermöglicht die Schaffung spannender Gebäude“, sagt Johann Harrer, der bei Strobl Holzbau für das Projekt verantwortlich war und die gesamte Bauphase begleitete.

Ein zentraler Aspekt im Holzbau ist sowohl die einfache konstruktive Ausführung als auch die entsprechende Werkplanung unter Berücksichtigung der Folgegewerke. Durch eine umfassende Koordination können potenzielle Herausforderungen besser antizipiert und optimale Lösungen gefunden werden, um Kosten und Bauzeit effizienter einzuhalten.


Johann Harrer, Projektleiter Strobl Holzbau

Noch frühere Einbindung wünschenswert

Seepark2.jpg

Die Erschließung des Gebäudes erfolgt relativ einfach durch eine vertikale Erschließungszone an der nördlichen Schmalseite des Hauses. © Paul Ott

Beim Projekt mussten mehrere Hürden überwunden werden, darunter enge Platzverhältnisse, strenge Umweltvorgaben und statisch anspruchsvolle Knoten. Trotz der intensiven wirtschaftlichen Bedingungen, die durch Ereignisse wie die Coronapandemie und Schwankungen der Holzpreise geprägt waren, sowie der Notwendigkeit, Kosten und Bauzeit einzuhalten, sei es den Beteiligten gelungen, das Projekt erfolgreich abzuschließen. „Allerdings wäre eine noch frühere Einbindung in den Planungsprozess wünschenswert gewesen, um gemeinschaftlich unter Berücksichtigung des Fertigstellungstermins und der Wirtschaftlichkeit noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Ein zentraler Aspekt im Holzbau ist sowohl die einfache konstruktive Ausführung als auch die entsprechende Werkplanung unter Berücksichtigung der Folgegewerke. Durch eine umfassende Koordination können potenzielle Herausforderungen besser antizipiert und optimale Lösungen gefunden werden, um Kosten und Bauzeit effizienter einzuhalten“, weiß Strobl-Projektleiter Harrer. Insgesamt biete die Kombination aus Holzriegel- und Modulbauweise laut Strobl ein enormes Potenzial. Sie ermögliche die Realisierung vielseitiger und nachhaltiger Gebäude, die den wachsenden Anforderungen an Flexibilität, Effizienz und Ästhetik in städtischen Umgebungen gerecht werden.

Zukunftsvisionen: Modulbau in 30 Jahren

seepark1.jpg

Der siebengeschoßige Baukörper beinhaltet 20 Wohnungen, vier Kleinbüros, ein Großraumbüro im Dachgeschoß und ein Geschäftslokal in der Sockelzone. © Paul Ott

Bei heri&salli will man trotzdem an der Zukunftsvision festhalten. In einem Zeitalter des zunehmenden räumlichen Bedarfs glauben sie an neue Möglichkeiten der Variabilität in der Serie im verdichteten Raum. Für Wolfmayr und Saller gäbe es im Modulbau noch viel Entwicklungspotenzial. „Standardmäßig ist es so, dass die Last eines Moduls über die Fläche abgetragen wird, aber sobald man beginnt, ein Modul zu drehen, wird die Last über die Punkte abgetragen“, erklären die Architekten. Konstruktiv und statisch wäre es laut Saller machbar. „Trotzdem wird es aktuell noch nicht gemacht. Man kann die Module zwar addieren und stapeln, aber nicht verdrehen.“ Die Industrie müsse an dieser Stelle eine leistbare Individualisierung zustande bringen. „Im Rahmen des Wettbewerbs lag die Schwierigkeit darin, ein effizientes und finanziell tragfähiges System zu finden“, ergänzt Saller. Wolfmayr sieht die Zukunft ohnehin im Hybridbau. „Wir sollten vom rein modischen Denken wegkommen. Holz macht Sinn. Aber für mich macht es auch Sinn, Materialien zu verbinden, weil damit gewisse Anforderungen besser erfüllt werden.“ In ihrem Beitrag für eine deutsche Fachzeitschrift schreiben die beiden deshalb auch: „Der modulare Raum wird letztendlich in 30 Jahren eine Art hybrides Wesen sein.“

Projektdaten

Standort: Wien
Fertigstellung: Sommer 2022
Bauherr: Familienwohnbau gemeinnützige Bau- und Siedlungsgesellschaft
Nutzungskonzept: art:phalanx – Agentur für Kultur & Urbanität
Architektur: heri&salli
Tragwerksplanung: Werkraum Ingenieure (bis Einreichung); Gretl Salzer Ingenieurkonsulentin für Bauingenieurwesen; Hnik Hempel Meler
Holzbau: Strobl Holzbau
Verbaute Holzarten/ -menge:  Konstruktionsvollholz (Fichte/Tanne): 225 m³;
Fassade (Lärche): 52 m³; Spanwerkstoffe (Fichte/Tanne): 42 m³; Mehrschichtplatten (Fichte/Tanne): 7,5 m³; Brettsperrholz (Fichte/Tanne): 570 m³
Bruttogeschoßfläche: 2500 m2