„Materialgerecht, digital, kreislauffähig“

Ein Artikel von Raphael Zeman | 29.07.2025 - 09:11
20210825-CN-02-002_crop (1).jpg

Prof. Moritz Dörstelmann, Leiter der Professur für Digital Design and Fabrication am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Gründer des Unternehmens FibR. © Karlsruher Institut für Technologie | Entwerfen und Baukonstruktion | Digital Design & Fabrication

Herr Dörstelmann, worum geht es bei Ihrer Arbeit?
Wir verbinden digitale Methoden mit der Zielsetzung, ressourcenschonend, energiearm und kreislaufgerecht zu bauen. Mich interessiert, wie sich Digitalisierung und Nachhaltigkeit verbinden lassen – nicht als Gegensatz, sondern als konstruktive Wechselwirkung. Es geht nicht darum, Verzicht zu predigen, sondern darum, in neuen Anforderungen echte Gestaltungschancen zu erkennen. Wir stehen vor großen ökologischen Herausforderungen, aber wir verfügen auch über präzise Werkzeuge, um sie zu lösen. 

Wie kamen Sie zu diesem interdisziplinären Ansatz?
Mein Weg verlief über mehrere Stationen. Ich habe an der RWTH Aachen klassisch-technisch geprägte Architektur studiert und in Wien – bei Zaha Hadid – konzeptioneller und mehr am Entwurf orientiert gearbeitet. Dabei habe ich mich früh mit der Frage beschäftigt, wie anpassungsfähige Strukturen aussehen könnten – inspiriert von biologischen Prinzipien. Das hat mich zur Biomimetik gebracht: Die tragenden Strukturen in der Natur – beispielsweise Bäume oder Käferschalen – bestehen meist aus anisotropen, kraftflussgerechten Faserverbundsystemen. Genau diese Effizienz brauchen wir auch im Bauwesen. Ich habe dieses Prinzip dann mit digitalen Entwurfs- und Fertigungsmethoden zusammengebracht.

Und in die Praxis übertragen – etwa bei Ihrem Unternehmen FibR?
Genau. Bei FibR setzen wir robotische Fertigungsmethoden ein, um tragfähige, extrem leichte Strukturen aus Faserverbundwerkstoffen zu produzieren. Anfangs arbeiteten wir mit High-Performance-Materialien wie Carbon – heute setzen wir vorrangig auf Flachsfasern. So nähern wir uns nicht nur strukturell, sondern auch materiell wieder der Natur an. Flachs wächst schnell, ist regional verfügbar und eröffnet neue Diversifikationsmöglichkeiten im biogenen Bauen – etwa als Ergänzung zum Baustoff Holz.

Was unterscheidet Ihren Ansatz vom klassischen Bauen mit natürlichen Materialien?
Dass wir Materialien nicht nebeneinander, sondern im strukturellen Verbund denken. Ein gutes Beispiel ist unser Deckensystem aus Holz, Lehm und Weide. Statt einen schweren Lehmblock auf Holzbalken zu setzen oder zu hängen, verweben wir Weidenruten zu räumlichen Körben, die mit einer angepassten Lehmmischung verfüllt werden. So entsteht ein mehrstufiges, integriertes System, in dem alle Materialien synergetisch zusammenarbeiten. Der Lehm ist nicht nur Masse, sondern Teil der Tragstruktur.

12_production_process_details_(c)_DDF_dos_KIT.jpg

© Karlsruher Institut für Technologie | Entwerfen und Baukonstruktion | Digital Design & Fabrication

Welche Vorteile hat das konkret?
Das System erfüllt hohe technische Anforderungen: In Brandversuchen hielt es 140 Minuten stand. In statischen Tests erreichten wir eine Bruchlast von 38 kN/m². Gleichzeitig sorgt der Lehm für hervorragenden Schallschutz – wir konnten auf Estrich verzichten und lediglich eine Trittschalldämmung und eine Holzdecklage einsetzen. Da alle Komponenten integriert sind, entfällt der Schichtaufbau. Das spart Bauhöhe, Masse und Energie.

Wie wird so ein System gefertigt?
Wir haben eigene Maschinen dafür entwickelt – etwa ein System zur Herstellung der Weidenkörbe. Es funktioniert halbautomatisch, gesteuert durch Sensoren, die beispielsweise den Biegewiderstand der Weide erfassen und die Vorschubgeschwindigkeit anpassen. Das erinnert an handwerkliches Arbeiten, nur dass es skaliert und reproduzierbar ist. Die Verfüllung erfolgt mit einer extrudierbaren Lehmmischung, die durch Kurzfasern stabilisiert ist. Es entstehen sogenannte Gradientenlehme mit lokalen Materialeigenschaften – je nach Belastungsanforderung.

Lassen sich solche Bauteile auch rückbauen und wiederverwenden?
Ja, das ist ein zentrales Ziel. Unsere Elemente sind modular konzipiert und reversibel montiert. Der Lehm kann – richtig aufbereitet – beliebig oft wiederverwendet werden. Die Weide wird biologisch zurückgeführt. Wir haben Verfahren getestet, bei denen die Struktur mechanisch zerkleinert und die Komponenten getrennt werden. Wichtig ist: Wir verzichten auf Klebstoffe. Die Verbindung erfolgt ausschließlich mechanisch – das ist entscheidend für echte Kreislauffähigkeit.

Sie forschen auch zur Wiederverwendung von Holzresten. Was ist der Ansatz?
Ein Großteil des verbrauchten Holzes – etwa aus Verpackungen oder Bauabfällen – wird heute verbrannt. Wir entwickeln digitale Upcycling-Verfahren, um auch kleine, unregelmäßige Holzstücke wieder nutzbar zu machen. Die Idee: Die Teile werden gescannt, klassifiziert und mit algorithmisch gesteuerten Montageprozessen zu tragfähigen Bauteilen zusammengesetzt. Dabei entstehen entweder offene Fachwerkstrukturen oder massive Deckenplatten – je nach Anwendung.

Wie sehen diese Strukturen aus?
Sehr unterschiedlich – und genau das ist das Spannende. Unsere Algorithmen wählen nicht nur die Teile, sondern erzeugen auch die passende Topologie. Manchmal entsteht daraus ein komplett neues Fachwerk – angepasst an die verfügbaren Stücke. Die Verbindungen erfolgen durch Holzdübel, teilweise mit geometrischer Verzahnung. So entsteht eine mikro- und makroskalare Schubkopplung, die auch strukturell sehr gut funktioniert. Und: Die Deckenuntersichten erhalten durch die Versatzgeometrie eine eigene gestalterische Qualität. 

Wie groß ist der Energieaufwand für all diese Prozesse?
Verglichen mit der konventionellen Herstellung massiver Betonstrukturen ist der Energieeinsatz deutlich geringer. Die digitale Fertigung ist präzise, aber nicht energieintensiv – unsere Maschinen sind einfach gebaut, viele Prozesse sensorbasiert. Die Hauptenergie entfällt derzeit auf die Dampferweichung der Weide. Perspektivisch lässt sich das durch Wässern ersetzen. Und die Rechenleistung – etwa beim maschinellen Lernen zur Holzsortierung – ist im Vergleich zum Material- und Energieeinsatz konventioneller Bauprodukte vernachlässigbar.

Wie weit ist die Anwendung in der Praxis?
Wir haben bereits funktionierende Prototypen und bereiten derzeit den Transfer in Bauprojekte vor – etwa im mehrgeschossigen Wohnungsbau. Der Schritt vom Labor- in den Maßstab 1:1 ist uns wichtig: Nur so lassen sich Wechselwirkungen im Entwurfs-, Produktions- und Konstruktionsprozess wirklich erkennen und gezielt weiterentwickeln. In Karlsruhe steht uns dafür ein 1000 m² großes Baulabor mit robotischer Infrastruktur zur Verfügung.

Welche Rolle spielt dabei Gestaltung?
Gestaltung ist für uns kein Nebeneffekt, sondern zentral. Neue Bauweisen müssen auch Akzeptanz erzeugen – dafür braucht es Qualität, nicht nur bei den Daten, sondern im Raum. Besonders Deckenuntersichten bieten großes Potenzial: Sie sind geometrisch offen und lassen sich materialgerecht und gestalterisch artikulieren – ein Ort, an dem sich Funktion und Ausdruck verbinden lassen.

2023-05-03_TW_dos-BuGa_DSF1021_final_TIFF_Adobe-RGB_16bit.jpg

© Tobias Wootton

Sie arbeiten auch international. Wie sieht das konkret aus?
Wir kooperieren mit der KNUST Universität in Kumasi, Ghana, um digitale Systeme zur Herstellung lehm- und bambusbasierter Bauteile zu entwickeln. Wichtig ist uns dort: niedriger Investitionsbedarf, niedrige Qualifikationshürde. Die Produktion erfolgt manuell oder halbautomatisch, aber digital unterstützt – z. B. durch Laserprojektion, Kamerasysteme und einfache Feedbackschleifen. So entsteht ein robustes, anpassbares System, das lokale Ressourcen nutzt und Arbeitsplätze schafft.

Was folgt daraus für das Bauwesen insgesamt?
Wir müssen unsere Systeme umstellen – nicht allein aus ökologischen Gründen, sondern auch aus ökonomischen. Die Zukunft liegt in einfachen, adaptiven, materialgerechten Bauweisen, die mit digitalen Werkzeugen entwickelt und lokal gefertigt werden können. Entscheidend ist, dass wir Gestaltung, Konstruktion, Material und Fertigung nicht getrennt betrachten, sondern als integrierten Prozess. Nur so können wir die drängenden Fragen von Klimaschutz, Ressourcenschonung und Wohnraumschaffung sinnvoll beantworten.