2623 Kubikmeter Holz am Konto

Ein Artikel von Birgit Gruber | 19.10.2021 - 08:58

Von der Vision zum Bauprojekt

Um das vorliegende, visionäre Bauprojekt zu verstehen, muss man zunächst einmal den Macher dahinter näher beleuchten. Thomas Rau, Mastermind des gleichnamigen Architekturbüros mit Hauptsitz in Amsterdam, ist Unternehmer, Planer, Innovator, Inspirator und Weltverbesserer. Sein Motto lautet „Von der Zukunft geleitet“. Er leistet seit Jahren einen wichtigen Beitrag zur nationalen und internationalen Diskussion um Nachhaltigkeit, zum Einsatz erneuerbarer Energieträger in der Architektur und zur Frage, wie angesichts aktueller Rohstoffknappheit zu handeln ist. Mit seinem Planerteam von RAU Architects hat er neue Standards im Bereich des CO2- und energieneutralen beziehungsweise energiepositiven Bauens und neuerdings auch für zirkuläre Architektur aufgestellt. Damit es in Zukunft keinen Bauschutt mehr gibt, wurde von ihm Anfang 2017 die Madaster Foundation, eine öffentliche Materialdatenbank, gegründet. Privatpersonen, Unternehmen und Behörden können für jedes Objekt aus dieser Online-Bibliothek einen digitalen Materialpass generieren. Die Ausstattung jedes Gebäudes mit einem solchen erleichtert dann nämlich die Wiederverwendung von Materialien. So wird Verschwendung vermieden, denn Abfall ist laut Rau „Material ohne Identität“. „Dieses Gebäude wird hoffentlich eine völlig neue Baukultur einleiten“, sagt der Architekt und meint damit das neue Bürogebäude der Triodos Bank. Umgeben von der waldreichen Umgebung des Landguts De ReeHorst  im niederländischen Zeist, wurde es 2019 von den Mitarbeitern des Kreditinstitutes bezogen.

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Der Büroneubau ist auf zirkulärer und nachhaltiger Ebene weltweit einzigartig. © Derix

Vollständig demontier- und wiederverwertbar

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Die teilweise zu öffnenden Fensterflächen dominieren das äußere Erscheinungsbild. © Derix

„Von der Immobilie zum wieder zusammensetzbaren Gebäude.“ Mit diesem Konzept habe Rau die Bank selbst und den Immobilienentwickler EDGE als Bauherren überzeugt. Gemeinsam mit Odette Ex von Ex Interiors und Pieter Arkenbout von Arcadis (Landschaft und Natur) teilte man sich die Verantwortung für den Entwurf. Das Ergebnis ist ein Gebäude mit einer hölzernen Haupttragstruktur, die fast vollständig demontierbar ist und als Materialbank in Raus System fungiert. „Da die Materialwerte auch online über die Madaster-Plattform überwacht werden, ist das Gebäude nicht nur ein Materiallager, sondern auch eine Materialbank. Dadurch kann der Wert von Materialien in der zukünftigen Bilanz steuerlich aktiviert werden“, lautet dazu die Erklärung. Der Neubau gilt somit als temporäre Kombination aus Produkten, Komponenten und Materialien mit einer dokumentierten Identität. Was kompliziert klingt, ist dadurch in Zukunft problemlos wiederzuverwerten. „Es wurde ein Gebäude mit maximalem zirkulärem Potenzial realisiert: Zerlegbarkeit ohne Wertverlust. Das Holzgebäude wurde mit 116.770 Schrauben verschraubt. Das bedeutet, dass das zirkuläre Potenzial zu 100 % aktiviert werden kann, wenn das Gebäude jemals wieder auseinandergenommen wird, ohne Wertverlust von Materialien, Komponenten und Produkten“, so das Versprechen der Planer. Bei dieser großen Menge an hochqualitativen Bolzenschrauben mit Längen zwischen 240 und 500 mm des Herstellers Spax würde sich eine Wiederverwendung vermutlich lohnen. Darüber hinaus gehen die Projektverantwortlichen von einer langfristigen Kostensteigerung bei den Baustoffen aus. Hinzu kommt, dass der Bau nicht losgelöst von der Neugestaltung von 17 ha Landschaft betrachtet werden kann. „In einem optimalen Ökosystem gibt es ein Gleichgewicht zwischen Natur, Kultur und Wirtschaft“, sagt Rau. „Keine der drei wird optimal bedient, weil das auf Kosten der anderen Bereiche geht.“ Die Entwicklung dieser drei Eckpfeiler gleichermaßen voranzutreiben – das war die Kernaufgabe des Projekts.

Eine „Kathedrale“ aus Holz

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Das Bankgebäude ist von unzähligen L-förmigen Leimbindern geprägt, die die Innenräume linsenartig gliedern und sich zu kammartig angeordneten Deckenunterzügen aufschwingen. © Derix

Das fünfstöckige Gebäude – sowohl der untere Teil als auch die Kerne und drei Türme – besteht aus dem nachhaltigen Baustoff Holz. Holzböden, -treppen, -liftschächte und -säulen bilden zusammen eine spektakuläre Konstruktion, die an eine Kathedrale erinnert. Der Holzanteil in der Haupttragstruktur beträgt mehr als 82 %. Tatsächlich ist der Bau von unzähligen L-förmigen Leimbindern geprägt, die die Innenräume linsenartig gliedern und sich zu kammartig angeordneten Deckenunterzügen aufschwingen. Das Holzfachwerk durfte sichtbar bleiben, während die Holzdeckenkonstruktion teilweise unter Klimadeckenelementen versteckt ist. Mit einer Bruttogeschossfläche von 12.500 m² bestehen die Büros aus 615 m³ Brettschichtholz (BSH), 2008 m³ Brettsperrholz (BSP) für Wände und Decken und zudem aus fünf ganzen Baumstämmen. 1.633.052 kg CO2 sind laut dem Planerteam im Holz des Gebäudes gespeichert. In den deutschen Wäldern, aus denen es stammt, wachsen die insgesamt 2623 m3 Holz in 43 Minuten und 43 Sekunden nach. Das Gebäude sitzt auf einem halb unterirdischen Betonsockel, da die Präsenz eines sehr hohen Grundwasserspiegels die Verwendung von Holz für das Untergeschoss nicht zuließ. Eine Glasfassade erstreckt sich von Geschoss zu Geschoss und lässt natürliches Tageslicht ins Gebäude. „Pro Fassadenraster von 3,6 m kann ein bodentiefes Fenster geöffnet werden. Dadurch findet der Kontakt zwischen den 550 Mitarbeitern und der umgebenden Landschaft statt, ohne die Regulierung des Raumklimas zu stören. Hohlräume schaffen visuelle Verbindungen zwischen den verschiedenen Etagen. Die Wendeltreppen in den Hohlräumen verbinden die Stockwerke und bilden kurze Durchgänge, die eine Treppennutzung auf natürliche Weise anregen“, erklären die Architekten. Sowohl die Gestaltung als auch die Verwendung von Materialien und Farben innerhalb des Gebäudes seien direkt von der Landschaft inspiriert. Durch die nuancierte Farbwahl heben sich die Holzbauteile optisch gut vom Rest ab. Systemlieferant war Derix aus Niederkrüchten. Das deutsche Unternehmen startete erst im Sommer des heurigen Jahres mit der Einführung einer Rücknahmeverpflichtung die Umsetzung des aktuell viel beschworenen „Cradle to Cradle“-Prinzips, das beim vorliegenden Projekt voll zur Anwendung kommen könnte. Der Hersteller verleimter Holzprodukte verpflichtet sich damit – nach Ablauf der von seinen Kunden zu bestimmenden Gebäudelebensdauer – Elemente aus Brettschichtholz- und Brettsperrholz zurückzunehmen und für neue Konstruktionen und Bauteile wiederzuverwenden (holzbau austria berichtete).

In einem optimalen Ökosystem gibt es ein Gleichgewicht zwischen Natur, Kultur und Wirtschaft.


Architekt Thomas Rau

Inspiriert von der Natur

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 Die Komposition und geschwungene Form des Fünfgeschossers ist unter anderem von der Natur, dem Rhythmus der Landschaftsräume des umliegenden Anwesens und den Flugwegen der Fledermäuse inspiriert. © Derix

Das Gebäude besitzt keine klare Vorder- oder Rückseite. Die naturfreundlichen Fußwege führen Passanten und Mitarbeiter zu den beiden Eingängen. Die Komposition und geschwungene Form des Fünfgeschossers ist unter anderem von der Natur, dem Rhythmus der Landschaftsräume des umliegenden Anwesens und den Flugwegen der Fledermäuse inspiriert. Die drei transparenten, einheitlichen Türme erheben sich von Süden nach Norden und sind abwechselnd im Erdgeschoss, im ersten und zweiten Obergeschoss verbunden. Gründächer ergänzen die Landschaft, die die vertikalen Holztürme umgibt. Neu angelegte Teiche bieten dort Insekten und Vögeln neuen Lebensraum. Regenwasser speist die Grünflächen, wird aber auch für die Toilettenspülung genutzt. Für das Parken der Autos wurde ebenfalls eine gute Lösung gefunden. In einer bidirektionalen Ladestation mit großem Solardach können Elektroautos nicht nur ihre Batterien aufladen, sondern diese Batterien können wiederum zur Speicherung von Sonnenenergie genutzt werden. Dank des Solardachs, das 505.000 kWh pro Jahr liefert, ist das Büro energiepositiv.

Nach höchsten Standards ausgezeichnet

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© Derix

Das zukunftsweisende und nachhaltige Projekt wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Das Gebäude belegte den ersten Platz beim Architektur MasterPrize 2020 in der Kategorie „Green Architecture“, wurde von den Cobouw Awards als „Nachhaltigstes Projekt des Jahres 2019“, von Architectenweb als „Bürogebäude des Jahres 2019“, von Vogelbescherming Nederland als „Nature inclusive building and design“ und von den Duurzaam Bouwen Awards als „Nachhaltigstes Projekt der Niederlande 2020“ ausgezeichnet. Stolz sind alle Beteiligten und Projektpartner auch über das Erreichen des BREEAM Outstanding-Zertifikates, das dem neuen Bürogebäude höchste Ansprüche an Materialien, Gebäudelebenszyklus, Umwelt und Gesundheit der Mitarbeiter bescheinigt. Damit wird die neue Triodos Bank nicht nur als wegweisendes Projekt für die Zukunft der Architektur gefeiert. Es schlägt wohl auch ein neues Kapitel in der Baugeschichte auf.

Projektdaten

Standort: Zeist, Landgut De ReeHorst
Fertigstellung: 2019
Bauherren: Triodos Bank Nederland, EDGE Technologies
Architektur: RAU architects, in Zusammenarbeit mit Ex Interiors, sowie Arcadis
Generalunternehmer: J. P. van Eesteren
Holzbau: Lüning B.V.
Systemlieferant: Derix
Holzmenge: ca. 2623 m³
Bruttogeschossfläche: 12.500 m²