Die natürliche Art des urbanen Lebens

Ein Artikel von Raphael Zeman | 09.08.2022 - 09:55
Vindmøllebakken_by_Helen&Hard_Foto_Sindre_Ellingsen_H1A1095.jpeg

Das Ensemble wurde behutsam an das architektonische Umfeld angepasst. © Helen & Hard, Sindre Ellingsen

1996 erwarben die Norwegerin Siv Helene Stangeland und der gebürtige Grazer Reinhard Kropf ein Grundstück mitten in der Altstadt von Stavanger und gründeten das Architekturbüro Helen & Hard. Rund zwanzig Jahre später entschied man sich dazu, auf ebendiesem Grundstück ein Quartier für gemeinschaftliches Wohnen zu errichten. Dieses sollte nicht nur sozial, ökonomisch und ökologisch, sondern auch architektonisch nachhaltig sein – dementsprechend entschied man sich für einen Holzbau. Das man diese Bauweise beherrscht, stellten Helen & Hard bereits mehrmals unter Beweis – so zum Beispiel beim Finanzpark der SpareBank 1 oder der Bibliothek Samling.

Sharing is Caring

Vindmøllebakken_by_Helen&Hard_Foto_Sindre_Ellingsen_H1A1708.jpg

„Vindmøllebakken“: Ein norwegisches Modell für den Wohnbau der Zukunft © Helen & Hard, Sindre Ellingsen

Um die Form des urbanen Wohnens zu revolutionieren, gründeten die Architekten gemeinsam mit einer Freundin und dem Investor Kurse Smith Eiendom das Unternehmen „Gaining by Sharing“. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das auf den Prinzipien des Teilens aufbaut, welche gemeinsam mit Indigo Growth und Gaia Trondheim erarbeitet wurden: „Es zeigt, wie menschliche, soziale, ökologische und ökonomische Bedürfnisse auf nachhaltige und symbiotische Weise befriedigt werden können. Das Modell versteht sich als Antwort auf die herkömmliche Art Wohnraum zu schaffen, welche oftmals nicht den vorherrschenden sozialen Bedürfnissen entspricht. Heutige Bewohner können moderne Familien mit ,deinen, meinen und unseren Kindern‘ sein, eine Generation von Älteren, die gesund sind und noch länger zu Hause leben möchten, Menschen, die alleine wohnen und einsam sind – oder auch Menschen, die einfach nur nachhaltig wohnen möchten. Durch das Teilen von Ressourcen – sei es Zeit, Raum oder Besitz – wird ein nachhaltiger Lebensstil ermöglicht.“ Dabei verweist das Unternehmen auf eine Studie des US-amerikanischen Cohousing Research Network, laut der 96 % der in Cohousing (Gemeinschaftswohnen) lebenden Personen von einer verbesserten Lebensqualität berichten. Darüber hinaus befinden 75 % ihre Gesundheit für besser als die Gleichaltriger.

Vindmøllebakken_by_Helen&Hard_Foto_Sindre_Ellingsen_H1A9459.jpg

© Helen & Hard, Sindre Ellingsen

Kleinere Wohnungen, größerer Mehrwert

Vindmøllebakken_by_Helen&Hard_Foto_Sindre_Ellingsen_H1A9214.jpeg

© Helen & Hard, Sindre Ellingsen

„Vindmøllebakken“ liegt mitten in der Altstadt von Stavanger, im Umfeld gibt es viele kleinteilige Holzhäuser. An diesen städtebaulichen Kontext haben Helen & Hard ihren Entwurf angepasst. „Die 26 8 mal 8 m messenden Häuser sind von zwei bis fünf Geschossen abgetreppt“, erklärt Kropf im Interview mit dem deutschen Architekturmagazin DETAIL. Der Komplex setzt sich aus insgesamt 40 Eigentumswohnungen, vier Stadthäusern sowie zehn Mietwohnungen zusammen, die allesamt um rund 500 m² Gemeinschaftsfläche – quasi das gemeinschaftliche Wohnzimmer des Komplexes –angeordnet sind. Die vollausgestatteten Wohnungen wurden etwas kleiner als üblich gehalten, dadurch soll auch der CO2-Ausstoß der Bewohner gesenkt werden. „Eine Dreizimmerwohnung mit zwei Schlafräumen hat beispielsweise rund 54 m², der norwegische Standard liegt zwischen 65 und 75 m²“, erläutert Kropf. Zusätzlich zur eigenen Wohnung besitzt jeder Bewohner 12 m² des Gemeinschaftsbereichs, die zum selben Preis wie die privaten Wohnungen verkauft wurden. Das Wohnzimmer des Areals gehört also allen gleichermaßen und wird auch von der Gemeinschaft verwaltet.

Vindmøllebakken_by_Helen&Hard_Foto_Sindre_Ellingsen_H1A9379.tif

© Helen & Hard, Sindre Ellingsen

Modell braucht Systematisierung

Vindmøllebakken_by_Helen&Hard_Foto_Sindre_Ellingsen_H1A1753.tif

© Helen & Hard, Sindre Ellingsen

Da Kropf und Stangeland Vindmøllebakken von Beginn an auch als Wohnraum für sich selbst entwarfen, war man natürlich gerne bereit, ein deutlich gesteigertes Ausmaß an Planungsarbeit auf sich zu nehmen. Die Frage, ob sich das Konzept ohne diesen im Arbeitsalltag unüblichen und unwirtschaftlichen Einsatz auf den kommerziellen Wohnungsmarkt umlegen ließe, beantwortet Kropf folgendermaßen: „Die Grundidee von Gaining by Sharing ist konkurrenzfähig am kommerziellen Markt zu sein – es soll kein idealistisches Nischenprodukt sein. Natürlich brachte Vindmøllebakken aufgrund des Gemeinschaftsprozesses einen sehr großen Planungsaufwand mit sich. Nun versuchen wir in der Weiterentwicklung des Konzepts, die Lösungen des Wohnbaus zu parametrisieren, die Gemeinschaftsprozesse in ein mehr oder weniger geregeltes System zu bringen.“ Dabei arbeitet man auch an einem interaktiven Tool, mit dem die späteren Bewohner selbst an den Grundrissen der Wohnungen und Gemeinschaftsbereiche herumbasteln können. Dies wird derzeit an drei, vier in Planung befindlichen Projekten getestet.

Holzbau-Know-how aus Österreich und der Schweiz

Die schlussendliche Errichtung von Vindmøllebakken war vor allem logistisch eine riesige Herausforderung, denn die Holzelemente – gefertigt von Holzbau Saurer aus Höfen – wurden mit fertigen Sichtoberflächen auf die Baustelle geliefert. Vermittelt hat die Tiroler Zimmerei kein geringerer als der Holzbau-Grande Hermann Blumer, der bereits seit Jahren eng mit holzaffinen Architekten wie Helen & Hard zusammenarbeitet. So zeichnet das von ihm mitgegründete Ingenieurbüro SJB aus St. Gallen für die Statik verantwortlich. Insgesamt 45 Lkw waren jeweils vier Tage lang unterwegs, um die rund 410 m³ Brettsperrholz, 330 m³ Brettschichtholz und 60 m³ Dreischichtplatten nach Stavanger zu bringen, wo pro Tag ein Geschoss errichtet wurde. Als weitere Herausforderung definierten die Architekten den Schall- und Brandschutz, zumal es ihnen ein besonderes Anliegen war, dass die Holzstruktur sichtbar bleibt.

Und wie hat sich das Projekt mit seinem engen sozialen Gefüge nun in Zeiten einer Pandemie bewährt? Laut Kropf war es sehr erfreulich zu beobachten, wie sich die Gemeinschaft mit den neuen und erschwerten Bedingungen arrangierte. Sogleich organisierte sich eine Gruppe, die sich um die Sicherheitsmaßnahmen kümmert. Laut dem Architekten konnte nicht nur der soziale Kontakt unter den Bewohnern aufrechterhalten werden, sondern es gab auch noch nie so viel soziales Miteinander, wie jetzt – und das in geordneten Bahnen. Man veranstaltet beispielsweise regelmäßig Konzerte, auch weil Musiker schwere Zeiten erleben. Die Architekten jedenfalls scheinen sich in Vindmøllebakken zu Hause zu fühlen: „Wir verstehen das als natürliche Art des urbanen Lebens – vor allem, wenn die Architektur selbst dazu anregt.“ 

Vindmøllebakken_by_Helen&Hard_Foto_Sindre_Ellingsen_H1A0820.jpg

© Helen & Hard, Sindre Ellingsen

Standort: Stavanger, Norwegen
Bauherrschaft: Kruse Smith Eiendom AS, Helen & Hard AS
Fertigstellung: 2019
Architekten: Helen & Hard
Statik: SJB
Holzbau: Holzbau Saurer
Holzmenge: ca. 410 m³ BSP, 330 m³ DUO-Balken und BSH, 60 m³ Dreischichtplatten
Fläche: 4950 m²